Im Dienste des wahren Selbst

Ist ein Leben ohne Eigendünkel möglich?

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Wir leben in einer Welt der Lügen. Die Freundlichkeit der Verkäuferin ist eine Lüge, der Treueschwur des Verliebten ebenso wie die Höflichkeit des Untergebenen. Die Versprechen der Politiker, die Werbung im Fernsehen, die Predigten der Eiferer und natürlich auch die Nachrichten von den Kriegsfronten dieser Welt sind Lügen. Wir wissen das sehr wohl, können aber die Tatsache, so dermaßen von Lügen umgeben zu sein, kaum ertragen. Und die Vorstellung, im gesellschaftlichen Leben selbst ebenfalls zu lügen, ist erst recht unerträglich. Deshalb betreiben wir mehr oder weniger Aufwand, um diese bedrückende Realität auszublenden. Wir fürchten, zu verzweifeln, und fühlen uns gedrängt, daran festzuhalten, dass Ehrlichkeit in der Welt existiert, dass es, mit anderen Worten, tatsächlich Menschen gibt, die uneigennützig sind und nicht immer und zuvorderst an ihren eigenen Profit denken.

Nun, ich bin mitnichten ein Zyniker, der bestreitet, dass es so etwas wie bedingungslose Liebe gibt oder überhaupt geben kann. Im Gegenteil, ich glaube an die Liebe. Allerdings sehe ich auch, dass sie gar nicht so weit verbreitet ist, wie es wünschenswert und nötig wäre. Vieles von dem, was als Uneigennützigkeit in der Welt erscheint, ist bloß Darstellung oder Theater, wobei es schwer zu entscheiden ist, ob man es eher mit einer Komödie oder einer Tragödie zu tun hat. Mehr oder weniger geschickt ummanteln wir unseren Egoismus mit sogenannten guten Sitten, Konventionen und manierlichen Umgangsformen. Dann gelten wir als respektabel, ehrlich und anständig. In den meisten Fällen lassen wir es dabei bewenden. Nur manchmal regt sich in uns die Sehnsucht nach Liebe und wir fühlen uns von der aufgesetzten Ehrlichkeit betrogen und abgestoßen.

Schauen wir uns diese Ehrlichkeit etwas genauer an. Der Ehrliche ist jemand, der nicht betrügt. Er ist ehrenhaft, übt einen ehrbaren Beruf aus und als solcher wurde er in früheren Zeiten auch für geeignet befunden, zu ehelichen. Er ist gesellschaftlich angesehen und das ist ihm in der Regel auch wichtig. Alle sollen sehen, dass er ehrlich ist, ehrlich bemüht, ein rechtschaffener Bürger zu sein. Diesbezüglich kann er durchaus Ehrgeiz entwickeln, das heißt, sich so vor anderen hervortun wollen, meistens mit besonderen Leistungen, dass er als der Ehrenhafteste schlechthin erscheint und dafür mit Lorbeeren geschmückt wird. Er hat ein untrügliches Gespür für gesellschaftliche Hierarchien und nutzt das zu seinem Vorteil. So entgeht ihm nicht, dass manche in der Gesellschaft eine Rolle spielen, die mit mehr Anerkennung und Ehre einhergeht, und diesen gegenüber verhält er sich bewundernd, beflissen, wenn nötig auch unterwürfig. Andere stehen auf der gesellschaftlichen Leiter unter ihm, so dass er sie kaum beachtet, weil sie ihm nichts nutzen. Wenn er diese Geringeren doch einmal in den Blick nimmt, dann wahlweise naserümpfend, bedauernd oder verurteilend.

Der Prototyp des Ehrlichen und Ehrbaren ist der Händler, der Kaufmann. Er betrachtet das gesellschaftliche Leben als ein Geschäft, bietet seine Leistung und sein Wohlverhalten an im Tausch gegen Ehre, Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstieg – gepaart natürlich mit der entsprechenden Vergütung. Ein erfolgreicher Geschäftsmann sieht sich genötigt, sich den Kunden gegenüber freundlich und zuvorkommend zu geben, auch wenn ihm ihre fordernde, kleinliche oder herablassende Art zutiefst unsympathisch ist. Zugleich meint er aber mit denen, die ihm zuliefern oder zuarbeiten, unnachgiebig und hart verhandeln zu müssen. Er schlüpft mal in diese, mal in jene Rolle, was bedeutet, dass er sich im Umgang mit anderen verstellt. Er mag ehrlich sein, in dem Sinne, dass er sein Gegenüber nicht betrügt, keine falschen Zahlen präsentiert, seine Ware nicht panscht oder irgendeinen Etikettenschwindel betreibt. Aber indem er sich verstellt, ist er gleichwohl unaufrichtig.

Was ist nun diese Aufrichtigkeit? Mit ihr verlagert sich die Ehrlichkeit nach innen. In gewissem Sinne kann man sagen, dass der Aufrichtige keine gesellschaftlichen Rollen mehr spielt. Das ist so gemeint, dass er sich nicht verbiegt oder windet, sondern aufrecht steht und geht. Damit riskiert er, von anderen nicht gemocht oder regelrecht abgelehnt zu werden. Es setzt eine gewisse Reife und Lebenserfahrung voraus, sich selbst so weit auf die Schliche zu kommen, dass man erkennt, wo und wie man sowohl anderen als auch sich selbst etwas vormacht. Aufrichtigkeit muss nicht zur Schau gestellt werden. Im Gegenteil! Wer sich nicht länger verstellt, tut es gerade deshalb nicht, weil er erkannt hat, dass alle Selbstdarstellung eitel ist. Gesellschaftlich gesehen hat er hiermit eine gewisse Unabhängigkeit erlangt und diese kann ihn durchaus mit Stolz erfüllen. Das heißt nun aber auch, dass der Aufrichtige nicht gegen Überheblichkeit gefeit ist. Seine aufrechte Haltung, mit erhobenem Haupt, wie man so sagt, kann leicht mit Härte, Strenge oder Unnahbarkeit einhergehen. Dann wird er kaum in der Lage sein, Mitgefühl für andere zu empfinden. Das gilt umso mehr, je stärker sein Gefühl der eigenen Wichtigkeit ist.

Zunächst also hilft uns der Stolz dabei, uns aus der sklavischen Abhängigkeit von Konventionen und Rollenzwängen zu befreien. Dann aber wird der Stolz selbst zu einem Kerkermeister, der uns von anderen isoliert und uns für jede Form von Liebe unzugänglich macht. Dieser Kerkermeister trägt den Namen „Eigendünkel“. Niemand gesteht sich selbst gerne ein, von Eigendünkel beherrscht zu werden. Man stellt sich unter dieser Bezeichnung lieber eine Karikatur vor, einen furchtbar eingebildeten, großtuerischen und herablassenden Menschen mit hochgezogenen Augenbrauen und stocksteifer Haltung. Aber im Grunde schmort jeder von uns im dunklen Verlies des Eigendünkels, der empfindlich auf Beleidigungen reagiert. Wer sich von einer Kritik oder Nichtbeachtung gekränkt fühlt und sich daraufhin empört, beklagt oder Trübsal bläst, kann davon ausgehen, dass er sich selbst zu wichtig nimmt.

Wir spüren, dass es mit dieser Frage ans Eingemachte geht. Es regt sich Widerstand. Wie, fragen wir erregt, sollen wir uns denn alles gefallen lassen? Sollen wir den Frechen und Betrügern das Feld überlassen? Ist es denn nicht notwendig, diese Gauner und Größenwahnsinnigen in die Schranken zu weisen? Was wird aus uns, wenn wir uns nicht wehren? – Offensichtlich fürchten wir uns vor diesem Opfer. Wir können erst aufhören, uns selbst wichtig zu nehmen, wenn unser Glaube und unsere Liebe so weit erstarkt sind, dass uns ein solcher Verzicht nicht länger mit Angst erfüllt. Denn dann sind wir gewiss, dass sich der Himmel um das, was uns als böse oder ungerecht erscheint, kümmern wird. Uns selbst nicht wichtig zu nehmen, ist wie das Leeren unseres Gefäßes. Erst wenn es leer ist, kann der Geist Gottes in uns Einzug halten.

Das ist keine neue Erkenntnis. Man findet sie in den verschiedensten spirituellen Überlieferungen. Im Johannesevangelium heißt es: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“.[1] Schauen wir ins Tao Te King von Laotse, so lesen wir: Der Berufene „will nicht selber scheinen, darum wird er erleuchtet. Er will nichts selber sein, darum wird er herrlich. Er rühmt sich selber nicht, darum vollbringt er Werke. Er tut sich nicht selber hervor, darum wird er erhoben.“[2] Und beim Yaqui-Indianer Don Juan Matus lesen wir: „Die Krieger bereiten sich darauf vor, bewusst zu sein, und volle Bewusstheit erlangen sie nur, wenn kein Eigendünkel mehr in ihnen ist. Nur wenn sie nichts sind, werden sie alles sein.“[3]

Wir nehmen uns selbst nicht länger wichtig, sobald wir erkennen, dass dies eben nicht unser wahres Selbst ist. Es ist „falsch“ in dem Sinne, dass es aus Konditionierungen, faulen Kompromissen, Lügen und allerlei uns schwächenden Glaubenssätzen besteht. Geben wir unserem wahren Selbst Raum und lassen es wachsen, indem wir dieses falsches Selbst zurücknehmen, entsteht in uns das, was Wahrhaftigkeit genannt wird. Der Wahrhaftige spielt im gesellschaftlichen Leben keine Rolle mehr – nun aber in dem Sinne, dass er unwichtig oder bedeutungslos geworden ist. In der Welt des Erfolges, der Macht und Reputation ist er tatsächlich eine unbeachtete Randfigur. Woher kommt diese Marginalisierung? Der Grund liegt nicht darin, dass er zu schwach ist, um die Anforderungen der Leistungsgesellschaft zu erfüllen, oder über zu wenig Kapital verfügt, um für die Konsumgesellschaft relevant zu sein. Entscheidend ist vor allem seine Weigerung, sich am stillschweigend vereinbarten gegenseitigen Betrug zu beteiligen. Nicht, dass er sich überall wie ein Enfant terrible aufführt und mit einem demonstrativ unkonventionellen Verhalten seine Mitmenschen provoziert. Das wäre doch nur eine weitere Rolle und darüber hinaus ziemlich eitel. Nein, er sieht den gesellschaftlichen Betrug, auch den Eigenbetrug, tatsächlich als einen Kerker, in dem die wahren Menschen gefangen sind. Seine Liebe verpflichtet ihn, für ihre Befreiung zu arbeiten.

Es kann nicht anders sein, als dass der Wahrhaftige in der Menschenwelt mit Nichtbeachtung konfrontiert wird. Die Welt kann ihn nicht achten, denn so, wie sie ist, fehlen ihr die Mittel dazu. Sie kennt nur ihre eigenen Maßstäbe, das heißt insbesondere die Naturgesetze, die Kausalität und natürlich wie immer die Nützlichkeit. Wahr ist ihr, was bewiesen werden kann, schön, was funktioniert, gut, was profitabel ist. Das Innere, das verborgene Geistige und damit auch die bedingungslose Liebe müssen ihr fremd bleiben. Sie weiß nichts von einem wahren Selbst. Und so kann sie den Wahrhaftigen nicht verstehen. Vielmehr neigt sie dazu, sich ihm gegenüber feindselig zu zeigen. Denn unterschwellig nimmt sie seine Existenz als eine Bedrohung wahr, etwas, was ihr ganzes Lügengebäude zum Einsturz bringen könnte. Bei all den eigennützigen Kaufleuten und hochmütigen Rechthabern dieser Welt kann die Konfrontation mit dem Wahrhaftigen einen Impuls auslösen, der zumeist als „schlechtes Gewissen“ bezeichnet wird. Viele der Betroffenen reagieren darauf mit Abwehr und Aggression wie zum Beispiel Diffamierung, Verhöhnung oder gar Verfolgung. Der Wahrhaftige ist sich dessen bewusst – und meidet daher die großen Bühnen, die Marktplätze dieser Welt.

Der Wahrhaftige zeichnet sich dadurch aus, dass er die ihm in der Welt entgegengebrachte Geringschätzung ohne Groll tragen kann, ohne Groll, ohne Klage, ohne Rachegelüste. Sie schmälert seine Freude nicht. Das ist keine Kleinigkeit! Er verdankt diesen Umstand seiner Stärke, der Stärke seines Glaubens, seines Vertrauens, seiner Liebe. Und so ahnt er, wie die Worte der Bergpredigt, mit denen ich diesen Beitrag abschließe, in Wahrheit auf eine innere Realität verweisen: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“[4]


[1] Johannes 3,30

[2] Laotse, Tao Te King, Das Buch vom Sinn und Leben, übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf-Köln, 1979, Abschnitt 22, Seite 62

[3] Carlos Castaneda, Das Feuer von innen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1992, Seite 131

[4] Matthäus 5,5-10

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