Gegensätze zusammenschauen

Wir sind mehr, als wir meinen

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Ich finde es bisweilen hilfreich, mir vorzustellen, dass wir auch das Gegenteil dessen sind, was wir äußerlich darstellen. In meinem Dasein erscheine ich beispielsweise als große, hagere Gestalt, dünn und sehnig, und doch sind das Gedrungene, Füllige oder Muskulöse Varianten, die auch zu mir gehören. Zwar wurden sie offensichtlich nicht physisch verwirklicht, aber als Potenzial sind sie doch vorhanden. Möglich, dass sie anderswo leben, als beleibte Fantasie vielleicht, breit gefächertes Fühlen oder raumgreifendes Denken. Ich weiß es nicht, aber ich gehe davon aus, dass jeder Mensch viel umfassender ist als seine aktuelle Erscheinungsform. Begegnet mir also jemand, der weich und leise erscheint, so halte ich Ausschau nach dem Harten und Lauten. Tritt mir jemand schüchtern entgegen, rechne ich mit einer versteckten Tatkraft – und ebenso umgekehrt.

Im Grunde können wir uns überall darum bemühen, Gegensätze zusammenzuschauen. Aber dort, wo es um das sogenannte geschlechtsspezifische Verhalten geht, finden wir ein besonders ergiebiges Übungsfeld. Sehe ich einen dominanten Mann, der seine Ehefrau zu beherrschen und ihre Entfaltung zu verhindern sucht, denke ich daran, dass in ihm auch die frustrierte, kummervolle oder furchtsam dienende Frau lebt. Und vor dem Hintergrund dieses verborgenen Lebens erscheint seine einseitige Betonung auf männliche Vorherrschaft in einem anderen Licht, eher wie der unbewusste und unglückliche, weil untaugliche Versuch eines inneren Ausgleichs. Höre ich eine streitbare Feministin sprachgewaltig das Unrecht einer männerdominierten Gesellschaft anprangern, spüre ich sogleich ihre innere Nähe zu dem, was sie empört und gewiss auch mit Recht kritisiert. Tief in ihrem Innern weiß sie genau, was sie bekämpft, nicht nur weil in ihr das Opfer dieses Unrechts, sondern auch der für das Unrecht verantwortliche Täter lebt.

Als Gedankenspiel kann uns die Vorstellung früherer Inkarnationen helfen, die starre Identifizierung mit einer Gestalt, Meinung oder Handlungsweise aufzulösen und damit unsere Einseitigkeit zu überwinden. Allerdings sollten wir dabei, wie ich meine, der Versuchung widerstehen, unsere sogenannten „Vorleben“ in der geschichtlichen Zeit zu verorten. Wenn wir sagen: „Ich war einmal eine Frau, die als Hexe verbrannt wurde“, haben wir dieses Leben in ein fernes Damals weit von uns geschoben. Dann ist das alles ja lange her. In uns tauchen Vorstellungen von einem finsteren Mittelalter auf, von grausamen Inquisitoren und öffentlichen Hinrichtungen, Bilder, die vielleicht auf Buch-Illustrationen oder Spielfilmszenen zurückgehen. Betrachten wir das Leben der als Hexe diffamierten Frau als ein vergangenes, zwingen wir uns selbst dazu, kausal zu denken. Wir wollen wissen, was vorher war, was nachher. Wir suchen nach Ursachen, und wenn wir sie gefunden haben, erklären wir von dort aus das spätere Geschehen. Aber die Kette von Ursachen und Wirkungen ist endlos. Sie ist das, was die Hinduisten und Buddhisten Samsara nennen. Egal wie weit wir die Zusammenhänge in der geschichtlichen oder vorgeschichtlichen Zeit zurückverfolgen, wir finden keine erste Tat. Es entspricht der linearen Zeit, dass sie keinen Anfang hat, und deshalb finden wir in ihr keine primäre Handlung, die selbst durch nichts bedingt ist, durch die aber alles Nachfolgende bedingt wurde. Wenn wir das einmal erfasst haben, erkennen wir auch, dass es wenig hilfreich ist, sich mit einem bestimmten Glied der Kette zu identifizieren.  

Es sagt sich so leicht, dass Zeit eine Illusion ist. Ein flotter Spruch! Aber diese Erkenntnis als eine Realität zu erleben, ist doch etwas ganz anderes. Meistens denken wir durchaus zeitgebunden, reden von Früher und Später, von einer Reihenfolge der Geschehnisse, von Bemühungen, die im Verlauf der Zeit zu einem Ergebnis führen. Es scheint, als könnten wir gar nicht anders. Wenn wir nun auf Grund dessen gezwungen sind, unser sogenanntes Vorleben als ein vergangenes anzusehen, so haben wir doch die Möglichkeit, in unserer Vorstellung die Gegensätze zu vereinen. Dazu erweitern wir in einer stillen Kontemplation unseren Fokus, so dass wir eine neue Perspektive auf das Geschehen erhalten. Was hieße das für unser Beispiel mit der Hexenverbrennung? Wir lösen uns aus der Identifikation mit einer bestimmten Person, wonach die ganze Szene zu einem Bild unserer selbst wird. Wir erleben: „Ich bin die Frau auf dem Scheiterhaufen und zugleich der Henker, der sie fesselt. Ich bin der johlende Zuschauer, der selbstgerechte Priester und ebenso die verzweifelte Mutter, die für ihre Tochter um Gnade fleht. Ich bin die Gier und die Angst, die Mordlust und die Scham. Das alles ist in mir.“

Wer sich nicht darin übt, Gegensätze zusammenzuschauen, bleibt zumeist seiner Einseitigkeit verhaftet. Er teilt die Welt in Gut und Böse und rechnet sich selbst, wie nicht anders zu erwarten, zu den Guten. Nun gehört es zum gesicherten Grundwissen einer jeden Psychotherapie, dass uns die unliebsamen Seiten, die wir innerlich abspalten, immer wieder in der Außenwelt begegnen. Sie kommen auf uns zu und stellen sich uns in den Weg. Verstehen wir solche Konfrontationen nicht als Hinweise darauf, dass etwas in uns ganz werden will, sind wir natürlich versucht, uns gegen den anderen rechthaberisch durchzusetzen und ihm eine Schuld zuzuweisen.

Frauen überwinden ihre Einseitigkeit, indem sie das Männliche integrieren, während Männer dasselbe erreichen, indem sie das Weibliche integrieren. Es geht dabei um eine innere Integrationsarbeit, eine Art innere Vermählung. Schließlich kommen wir dahin, dass wir den Geschlechtern unparteiisch gegenüberstehen, ohne Präferenz, ohne Groll, ohne Neid. Auch das gehört, zumindest in der Psychotherapie nach C.G. Jung, zum Grundwissen. Es ist aber nötig, daran zu erinnern, denn heute sehen wir eine deutliche Verlagerung von innen nach außen, eine Veräußerlichung des Inneren, eine Art psychischer Exhibitionismus. Mit äußerlichen Veränderungen lässt sich die erforderliche Integration aber nicht herbeiführen, weder mit extravaganten Verkleidungen oder Promiskuität noch mit Hormonpräparaten oder chirurgischen Eingriffen. Männer in Frauenkleidern, Frauen mit Bart – das Aussehen mag das Auge trügen, aber die innere Einseitigkeit bleibt bestehen; die Gegensätze werden nicht integriert. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass man trotz aller Geschlechtertoleranz der Feindbilder bedarf. Mitunter provoziert man mit der Zurschaustellung seiner Erscheinung in der Umgebung gezielt Widerspruch – um die eigenen inneren Widersprüche nicht ansehen zu müssen.

Innerlich ist kein Mensch ausschließlich Frau oder ausschließlich Mann. In uns lebt beides, in unserem Unbewussten, aber auch in unseren Bedürfnissen, Sorgen und Sehnsüchten. Wir wollen selbst bestimmen, sehnen uns aber auch danach, geführt zu werden. Wir wollen uns durchsetzen, erwarten jedoch zugleich, dass andere rücksichtsvoll mit uns umgehen. Wir denken analytisch, hoffen aber auf die Synthese, die Einheit. Wir argumentieren logisch, während wir uns im gleichen Atemzug unlogisch verhalten. Hier erscheinen die Gegensätze als innere Widersprüche, und die gilt es dort zu überwinden. Ein Mensch, der sich in seinem Körper nicht zu Hause fühlt, weil er sich innerlich als dem anderen Geschlecht zugehörig erlebt, wird durch diese Spannung aufgefordert, innere Integrationsarbeit zu leisten. Wandlung geschieht stets von innen nach außen und niemals umgekehrt. Die chirurgische Veränderung des Körpers ist wie ein Kleiderwechsel auf biologischer Ebene. Derjenige, der drinsteckt, bleibt derselbe.

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