Erlösung statt Verlust

Warum wir anders altern sollten

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Das Ideal des jungen Menschen ist es, mit der Zeit mitzugehen. Er gibt sich ganz seiner eigenen und der gesellschaftlichen Entwicklung hin und hat folglich keine Zeit. Die Bestimmung des alten Menschen ist es, aus dem Flusslauf der Zeit auszusteigen. Damit ist nicht auf die Selbstverständlichkeit angespielt, dass der Alte irgendwann sterben muss. Aus der Zeit auszusteigen meint vielmehr, zeitlebens die Ewigkeit zu kosten. In der Ewigkeit ist alles enthalten, alles an seinem Ort in der Zeit. Nähern wir uns der Ewigkeit, verschwindet die Angst, zu spät zu kommen und etwas zu versäumen. Der junge Mensch ist oft gehetzt, denn das Tempo der Entwicklung, mit der er sich gezwungen sieht mitzuhalten, erhöht sich immer weiter. Stellen wir uns einmal vor, wie wohltuend für ihn die Gegenwart eines Alten sein könnte, der die Ewigkeit gekostet hat!

Die Annäherung an die Ewigkeit geschieht auf natürliche Weise. Auch wenn es hier individuelle Unterschiede gibt, so trifft es doch zu, dass sich jeder alte Mensch naturgemäß aus dem Zeitlauf löst. Leider stehen die Lebensverhältnisse, die wir in unserer Zivilisation geschaffen haben, dieser natürlichen Loslösung entgegen. Das ist ein wirkliches Unglück. Heute wird der alternde Mensch gezwungen, mit der Zeit mitzugehen. Zwar muss er nicht jede Mode mitmachen, aber vor allem was die technischen Innovationen anbelangt, erlaubt man ihm keine Freiräume. Wenn er kein Smartphone besitzt oder nicht damit umgehen kann, muss er die Hilfe anderer in Anspruch nehmen, um gesellschaftlich nicht auf einem Abstellgleis zu geraten. Dadurch empfindet er sich zwangsläufig als ein überholtes, defizitäres und schwaches Geschöpf.

Doch es ist kein Zeichen von Altersschwäche, dass wir im Alter der elektronischen digitalen Technik zunehmend befremdet gegenüberstehen. Computer, Internet, Smartphone und dergleichen sind alle Ergebnisse eines bestimmten, zeitgebundenen Denkens. Ich nenne es zeitgebunden, weil es grundsätzlich auf der Verknüpfung von Ursache und Wirkung, Vorher und Nachher, aufbaut. Dieses Denken funktioniert „logisch“ in dem Sinne, dass jedes Tun, jeder Knopfdruck, jeder Klick, eine genau festgelegte Folge nach sich zieht, immer wieder und immer wieder die gleiche. Unsere elektronischen Geräte können wir nur bedienen, wenn wir kausal, also entlang der linearen Zeitachse denken. Aber das ist nicht die Stärke des alternden Menschen, denn die Natur strebt danach, ihn aus dem Korsett dieses zeitgebundenen Denkens zu befreien.

Der junge Mensch schaut voraus und schreitet voran. Aber der Alte verfehlt den Sinn seines Daseins, wenn er meint, es dem Jungen gleich tun zu müssen. Er kann es nicht, er wird immer hinter dem Jungen zurückbleiben. Gewiss können wir im Alter noch einen Marathon laufen. Doch wenn wir vom Ehrgeiz getrieben werden, eine, wie man sagt, „gute Zeit“ zu laufen, um die Jungen zu beeindrucken oder von der Gesellschaft Bewunderung und Anerkennung zu erhalten, geehrt zu werden, sind wir eine tragische Figur, der es nicht gelingt, aus dem Wettlaufmodus auszusteigen. Wir laufen vor dem, was doch mit der Zeit unausweichlich kommt, davon. Der junge Mensch schreitet fort ins Leben hinein. Entlang dieser Zeitschiene aber zeigt sich dem alternden Menschen keine verlockende oder erfreuliche Perspektive. Wähnt der Mensch in jungen Jahren sein Leben vor sich, so meint der Ältere, er habe es hinter sich. Beide Sichtweisen sind Trugbilder der Zeit.

Wir finden im Alter also keine Erlösung, wenn wir die Zukunft den Jungen überlassen und uns selbst um die Pflege und Archivierung der biografischen Vergangenheit kümmern. Verweilen wir bei dem, was früher geschehen ist, weil uns die Welt fremd geworden ist und wir uns fürchten vor dem, was uns als alternden Menschen erwartet, fangen wir an, uns sentimental an Vergangenes zu klammern. Das führt dazu, dass wir den nahenden Tod mit jedem Tag nur noch etwas mehr fürchten. Wir trauern dann der „guten alten Zeit“ nach, die uns endgültig verschwunden zu sein scheint. Vergangen und vorbei sind für uns all die Ereignisse und Begegnungen unseres Lebens, weil wir nur zeitgebunden oder geschichtlich denken. Dadurch befinden wir uns als alternde Menschen in einer ausweglosen Situation. Rückwärtsgewandt erleben wir immer stärker den Verlust des Vergangenen und nach vorne gewandt sehen wir den Verlust des Künftigen, das heißt Zerfall und Tod.

Sollte das unser Los sein? Ist das Alter ein Fluch? Dass es diesen Anschein hat, zeigt schon, wie stark wir mit unserem Denken der geschichtlichen oder biografischen Zeit verhaftet sind. In der Zeit gibt es ein ständiges Kommen und Gehen von Erscheinungen und nichts von all dem, was erscheint, ist von Dauer. Manche Bäume werden vielleicht mehrere Tausend Jahre alt, aber dann zerfallen und verschwinden auch sie. Sogar Sterne und Planeten gehen irgendwann zugrunde. Schauen wir also nach außen, in die Welt hinein, sehen wir überall nur ein mehr oder weniger befristetes Dasein. Nichts scheint unvergänglich.

Ewigkeit ist nichts Erscheinendes, sondern eine innere Dimension des Seins. Auf die materielle Außenwelt projiziert missverstehen wir sie als Unendlichkeit. Aber ein unendliches Weiter-so wäre tatsächlich ein verhängnisvoller Fluch. Das können wir uns nicht wünschen. In der Unendlichkeit gibt es keine Schöpfung, sondern nur mechanische Wiederholung, ohne Hoffnung auf Erlösung. Während uns in der Zeit die Ereignisse und Begegnungen wie Perlen auf einer Schnur erscheinen, öffnet sich in der Ewigkeit eine Art geräumige Gegenwart, in der alles da ist. Gerade wenn wir älter werden, spüren wir die Nähe einer anderen Dimension, in der die Zeit, so wie wir sie kennen, nicht zu existieren scheint, ähnlich wie im Traum. Wir nehmen die Gegenwart derer wahr, die längst verstorben sind und eine Ahnung von den Wegen, die wir vielleicht einst gehen werden, beflügelt unsere Fantasie, inspiriert unser Denken und Tun.

Die Jugend ist kein förderliches Ideal des Alten. Aber der Alte, der Erlösung gefunden hat, könnte zum Ideal des Jungen werden. So gesehen kommt uns im fortgeschrittenen Alter eine Verantwortung zu, die wir noch gar nicht richtig verstanden haben. Lange Zeit galt die Lebenserfahrung als der Schatz des alternden Menschen. Erfahrung hatte in einer Zeit, als Söhne und Töchter noch in die Fußstapfen ihrer Eltern traten und von diesen in die für sie vorgesehene Arbeitswelt eingeführt wurden, durchaus seine Bedeutung. Doch heute sehen wir, dass aufgrund rasanter Entwicklungen schon die Erfahrungen junger Eltern für ihre Kinder kaum noch Bedeutung haben. Die Erfahrungen der Großeltern erscheinen da nur noch als museale Rarität, verstaubt, antiquiert und vor allem unbrauchbar. Sollte dem Alten am Ende nur noch das Geld bleiben, mit dem er sich ein bisschen Zuwendung oder Gehorsam erkaufen kann? Das wäre traurig und im Grunde würdelos.

Wenn wir anfangen, unsere inneren Dimensionen zu erforschen, dürfen wir dafür in der erscheinenden, äußerlichen Welt keine Anerkennung oder Ehrung erwarten. Es sollte uns im Alter nicht erschrecken oder betrüben, in der Welt nicht mehr gebraucht zu werden. Denn Nützlichkeit ist ein Kriterium, das nur in der zeitlichen Entwicklung gültig ist. Liebe, Freude und Gelassenheit sind keine Werkzeuge oder Fertigkeiten, die irgendwie gewinnbringend eingesetzt werden können. Wir können sie nicht zu Geld machen. Und es mag durchaus sein, dass der junge Mensch sie infolge seiner starken Fokussierung auf äußerliche Entwicklungen gar nicht bemerkt. Aber sie sind in der Welt und berühren ihn in seinen Träumen. Am Ende zählt nur, wer wir sind.

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