Woher kommt Hilfe?
In alten Schriften wie der in koptischer Sprache verfassten Pistis Sophia heißt es, die Menschheit stehe unter der Befehlsgewalt dunkler Herrscher, Archonten genannt. Diese seien uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen, so dass der Mensch allein kaum etwas gegen sie auszurichten vermag. Unser gesamtes Dasein stehe im Einflussbereich des Authades, einer satanischen Personifikation des Selbst- oder Eigenwillens. Gemäß der christlichen Glaubenslehre befindet sich der Mensch seit seinem Sturz aus den Bereichen göttlichen Lichts, dem sogenannten Sündenfall, im Dunkel einer physischen Existenz und damit unter der Herrschaft des Todes. Diesen Zustand, in dem Unbewusstheit und Wiederholungszwang vorherrschen, kennt die hinduistische und buddhistische Philosophie als Samsara. Und die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners sieht die derzeitige Menschheit unter der Knute einer teuflischen Macht, die mit einem urpersischen Lehnwort Ahriman genannt wird.
Wenn es zutrifft, was diese verschiedenen Überlieferungen darlegen, und wir als Menschen auf Erden tatsächlich unter der Herrschaft uns knechtender, übelwollender Gewalten stehen, so bedürfen wir der Erlösung oder Befreiung. Nun ist es wichtig zu verstehen, dass es sich bei dieser tyrannischen Herrschaft nicht nur, ja nicht einmal primär um eine äußere, weltliche Macht handelt. Es wäre ein Fehler, zu meinen, es gehe nur um geheime Machtzirkeln, um einen verschworenen Kreis von Superreichen, womöglich noch verstärkt durch die technischen Finessen außerirdischer Intriganten. Ich bestreite nicht, dass es derlei Gruppierungen gibt oder geben könnte, möchte aber darauf hinweisen, dass der Einfluss des Bösen viel tiefer geht. Es ist auch in uns. Wer nur das Böse draußen sieht und es dort entlarven oder bekämpfen möchte, übersieht leicht seine eigene Boshaftigkeit, die etwa in Form von Rechthaberei, Aggression, Hochmut, Eitelkeit, Scheinheiligkeit oder Habsucht zum Ausdruck kommt. Indem man die dunklen Machenschaften in der Welt sieht und benennt, setzt man sich selbst in Opposition dazu. Wenn wir imstande sind, das Böse in der Welt als solches zu erkennen müssen wir ja, so unsere Schlussfolgerung, die Guten sein. Doch das ist eine Selbsttäuschung und die wird uns nicht erlösen. Sie bildet vielmehr den Kern unserer Unfreiheit.

Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, dass wir uns nicht ohne Weiteres selbst erlösen können, ist doch gerade unser Selbst-Wille böse. Er ist insofern böse, als er Ehrgeiz, Rivalität und Aggression befördert und damit immer wieder einen Keil zwischen uns und andere treibt. Wir bedürfen der Hilfe. Aber so wie die Unterdrückung und unsere daraus resultierende Knechtschaft nicht primär äußerlich sind, so auch nicht die erlösende Hilfe. Es mag noch so viel Licht aus den Tiefen des Universums auf die Erde gestrahlt werden, es mögen uns noch so viele Engel und Erzengel zur Seite gestellt sein, – am Ende kann unsere Erlösung nur von innen kommen. Der erste Schritt dazu ist immer die Erkenntnis, dass wir in der Tat innerlich unfrei sind. Diese Tatsache gilt es uneingeschränkt anzuerkennen. Damit wir jedoch nicht daran zerbrechen oder verbittern, ist es notwendig, zugleich die Hoffnung zu hegen, wirklich erlöst werden zu können. Die Hoffnung auf eine überraschende Wende in unserem Leben, die Hoffnung darauf, dass uns die Augen geöffnet werden, können wir ohne Glauben nicht haben. Es ist der Glaube an das Gute und dieser ist ein Geschenk der Liebe. Der Glaube, die Liebe und die Hoffnung sind die Hilfen, derer wir bedürfen.
Doch mit ihnen projizieren wir unsere Erlösung nicht in eine unbestimmte Zukunft. Unsere Hoffnung gilt dem Jetzt, gilt der Offenheit des Jetzt für die Offenbarung des Ewigen. Unser Glaube gilt dem Guten, das dem Jetzt innewohnt. In der Hinwendung zu dieser Wahrheit erwacht die Liebe. Gelingt diese Beziehung, und sei es nur für eine Sekunde, erleben wir die Einheit, die sonst so oft von ständigen Ich-Gedanken und hartnäckiger Selbstbezogenheit zerstört wird. In dem Moment ahnen wir, was Erlösung sein könnte. Und doch ist sie nicht nur eine Gnade, die uns entweder zuteilwird oder nicht zuteilwird. Unsere Aufgabe ist es, uns von allem zu lösen, was uns an der Beziehung zum Jetzt hindert: unserem Mangel an Glaube, der Zweifel hervorruft, unserem Mangel an Hoffnung, der Verzweiflung bringt, sowie unserem Mangel an Liebe, der zu Zwiespalt führt. Erlösung geschieht im Grunde dadurch, dass wir unseren wahren Kern freilegen. Mein Lehrer Manfred Keyserling wies mich einmal darauf hin, dass dies die innere Bedeutung des Wortes Pflicht ist. Er nannte es ein deutsches Mantram, das sich von innen nach außen, also von Ich über Licht zu Pflicht aufbaut. Unsere Pflicht sei es demnach, das Ich zu lichten.

Diese heilige Pflicht getreu zu erfüllen, ist eine lebenslange Aufgabe. Doch hier begegnet uns ein Paradox. Denn wenn ich, die weltliche Person als der ich mich selbst betrachte, derjenige bin, der den wahren Kern meines inneren Wesens verdunkelt, so müsste ich mich selbst aufgeben, meine Gedanken, meine Gefühle, meine Empfindungen. Dann gelte es, alles Egoistische, jedes Verlangen nach materiellem oder emotionalem Profit, nach Macht und Status vollständig abzulegen. Unsere gelegentlich als „kleines Ich“ oder „Ego“ bezeichnete äußere Person scheint dazu nicht bereit, vielleicht auch gar nicht in der Lage zu sein. Denn wie sollte sich das Ego von sich selbst erlösen? Hier zeigt sich zwar unmissverständlich, dass wir zur Befreiung der Hilfe bedürfen, aber zugleich stellt sich die Frage, wem diese Hilfe zukommen sollte. Das Ego sollte ja nicht gestärkt oder unterstützt werden.
In dem Moment, da wir anfangen, die Tyrannei des Ego als solche zu erkennen, wo wir unsere innere Unfreiheit als leidvoll erleben, regt sich in uns die Stimme des Gewissens als Lebenszeichen der Seele. Es geschieht eine Umkehr. Dieser Augenblick ist wie ein Geschenk. Wir können ihn uns nicht verdienen oder erarbeiten. Wir mögen ein Leben lang gegen äußere Unterdrückung und Ungerechtigkeit angekämpft haben, aufopferungsvoll vielleicht aber auch rechthaberisch, und plötzlich schlägt das ganze Engagement nach innen um. Wir ahnen, dass die Situation in der Welt draußen das Spiegelbild unserer inneren Situation ist. Das ist ernüchternd und desillusionierend, aber diese Enttäuschung ist zugleich der Auftakt unserer Erlösung. Erleben wir sie als Quelle der Hoffnung, erwacht in uns der Glaube, dass Liebe tatsächlich existiert. Kommt uns die Wende auf diese Weise, so wird uns Gnade zuteil. Fortan gilt es, zuvorderst an uns selbst zu arbeiten. Denn die Gnade verpflichtet. Und in der Erfüllung dieser Pflicht liegt unsere Freude.
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