Erfahrung, Urteil, Entscheidung

Warum es ohne Urteil und Wertung nicht geht

Audio Version

Jeder von uns macht Erfahrungen, und zwar fortlaufend, egal ob freud- oder leidvolle, dramatische oder langweilige, bedeutende oder banale. Solange wir in einem Körper leben und über Sinnesorgane verfügen, sammeln wir Erfahrungen. Wir können nicht anders. Es ist uns schlicht unmöglich, keine Erfahrungen zu machen, erst recht, wenn man zusätzlich die Möglichkeit innerer Erfahrungen in Betracht zieht. Insofern ließe sich der Mensch als das Wesen bezeichnen, das erfahrend in der Welt steht. Sein Leben ist eine einzige Kette von erlebten Ereignissen. Nicht wenige meiner Freunde sind sogar der Ansicht, dass der Grund unseres Daseins genau darin besteht, Erfahrungen zu machen, besser gesagt: ganz bestimmte Erfahrungen. Denn natürlich sollen es nicht irgendwelche Geschehnisse sein, die mit mir im Grunde nichts zu tun haben, die jedem anderen genauso widerfahren könnten.

Aber wie kommt es, dass ich nicht einfach irgendetwas, sondern etwas ganz Bestimmtes erfahre? Das hängt offensichtlich mit unserer Fähigkeit zusammen, Entscheidungen zu treffen. Nun gehört das Entscheiden genauso zwingend zu uns wie das Erfahren. Zwar sind wir uns dessen nicht immer bewusst, aber wir fällen ständig Entscheidungen. Klingelt der Wecker in der Früh, entscheide ich, ob ich noch fünf Minuten liegenbleibe oder gleich aufstehe. Doch auch wenn ich mich dem sogenannten „inneren Schweinehund“ überließe und gar nicht aufstünde, hätte ich eine Entscheidung getroffen. Am Frühstückstisch, egal ob früh oder spät, entscheide ich, was ich trinke, was ich esse und in welcher Reihenfolge. Zwar führe ich eine ganze Reihe von Routine-Handlungen mehr oder weniger automatisch aus, doch stellt mich mein Leben im Lauf des Tages immer wieder vor eine Wahl: jetzt oder nachher, hier oder dort, Treppe oder Fahrstuhl, etwas erwidern oder schweigen, anrufen oder schreiben? Mit Sicherheit kann jeder die Aufzählung für sich problemlos fortführen.

Die Entscheidungen, die wir fällen, ziehen natürlich Konsequenzen nach sich, Folgen, die ich zu tragen habe. Auf diese Weise bestimme ich selbst darüber, welche Erfahrungen ich mache. Wenn ich mich entscheide, von A nach B mit dem Flugzeug zu reisen, werde ich andere Erfahrungen machen, als wenn ich mich für den Zug entschieden hätte. Nicht nur bietet mir der Blick aus dem Fenster eine jeweils andere Seherfahrung. Ich werde auch mit jeweils anderen Menschen unterwegs sein, andere Begegnungen haben. Der Zusammenhang zwischen Entscheidungen und Erfahrungen ist so offensichtlich, dass ich ihn hier wohl nicht weiter ausführen muss.

Viel interessanter ist die Frage, wie ich Entscheidungen treffe. Mache ich das impulsiv, aus dem Bauch heraus, also ohne nachzudenken? Oder überlege ich länger und wäge das Für und Wider ab? Oder passiert weder noch, und ich lasse mich von der Entscheidung anderer mitreißen? Wenn mein Bauch entscheidet, geschieht es weitgehend unbewusst. Ich merke meistens nicht einmal, dass eine Entscheidung gefällt wurde, und das ist auch gar nicht überraschend, denn „ich“ habe sie ja nicht getroffen. Bauchentscheidungen entlasten Verstand und Vernunft und ermöglichen reibungslose Abläufe. Jeder weiß, dass man beim Autofahren den Körper besser gewähren lässt und nicht jede Bewegung bewusst zu erfassen sucht. Gleichwohl gibt es im Straßenverkehr, und erst recht in vielen anderen Lebensbereichen, immer wieder Situationen, in denen ich wohlüberlegt entscheiden muss. Das kann ich aber nur, wenn ich die jeweilige Lage möglichst klar beurteile. Eine bewusste Entscheidung treffe ich auf der Grundlage eines Urteils.

Ich kenne keinen Menschen, der bestreitet, dass Erfahren und Entscheiden zu unserem Dasein gehören. Zu offensichtlich ist hier die Realität. Ganz anders sieht es mit dem Urteilen aus. Man solle nicht urteilen, so die gängige Meinung vieler in meiner Umgebung. Würde ich urteilen, hätte ich eine  Wertung vorgenommen, und das sei zu vermeiden. Ehrlich gesagt, erstaunt mich diese Ablehnung, denn ich kann mir eine bewusste Entscheidung ohne Urteil einfach nicht vorstellen. Ein Beispiel von vielen: Eine Kollegin kritisiert heftig mein Vorgehen in irgendeiner Angelegenheit. Ich versuche einen kühlen Kopf zu bewahren und bewusst zu entscheiden, wie ich angemessen darauf reagiere. Käme meine Reaktion aus dem Bauch heraus, das ist mir klar, würden unbewusste Reaktionsmuster den weiteren Verlauf der Unterhaltung bestimmen. Vielleicht ginge ich dann zum „Gegenangriff“ über oder ich würde mich unterwerfen, mich der Kritik anschließen und mich mit Selbstvorwürfen zerfleischen. Ich könnte auch instinktiv verstummen oder davonlaufen. Da ich jedoch bewusst über meine Reaktion entscheiden will, muss ich die Gesamtlage, und dazu gehört auch meine Kollegin, beurteilen. Wie ist ihre Stimmungslage – und wie ist meine? Wie schätze ich ihre Bereitschaft ein, meine Erwiderung wohlwollend zu prüfen? Wie beurteile ich ihre Fähigkeit, meine Sichtweise intellektuell nachzuvollziehen? Wie sind eventuell frühere Begegnungen dieser Art mit ihr verlaufen? Wie sind die aktuellen Umstände? Ist der Ort passend? Gibt es genügend Zeit für eine tiefergehende Auseinandersetzung? 

So kommt es zu einer Bewertung meines Gegenübers in Hinblick auf meine Handlungsmöglichkeiten. Letzteres ist entscheidend. Wertfrei kann ich nur beobachten – und auch das ist schon eine Herausforderung. Jeder kennt das. Man betrachtet schweigend einen Baum, seinen Atem oder den Sonnenaufgang. Spontan denkt man: wie kraftvoll!, wie friedlich!, wie schön! Und schon hat man seine Wahrnehmung bewertet. Verlasse ich aber meine Beobachterposition und werde aktiv, fange an zu handeln, zu kommunizieren und interagieren, komme ich gar nicht mehr umhin, Bewertungen vorzunehmen. Ohne Wertung könnte ich gar nicht auf die spezifische Lage, die Befindlichkeiten, Stärken und Schwächen des anderen eingehen. Im Umgang mit Kindern ist die Notwendigkeit des Urteilens und Bewertens besonders augenfällig. Wenn ich als Erwachsener wirklich auf das Kind mir gegenüber eingehen möchte, wenn ich seinen Bedürfnissen, seinem Naturell, seiner momentanen Stimmung, seinen sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten gerecht werden will, geht es gar nicht ohne Urteil. Würde ich mit jedem Kind jeglichen Alters gleich reden, käme eine sehr beschränkte, unpersönliche und wahrscheinlich auch missverständliche Kommunikation dabei heraus.

Wir brauchen also Urteilsvermögen oder Urteilskraft, um zu bewussten Entscheidungen zu gelangen. Aber – und das ist wichtig zu unterscheiden – das Urteil oder Werturteil ist kein Richterspruch! Ein weiteres Beispiel soll den Unterschied klären. Komme ich als Vater oder Erzieher aufgrund meiner Lage-Beurteilung zum Schluss, einem trotzigen und forderndem Kind Einhalt gebieten zu müssen, so heißt das natürlich nicht, dass ich das Kind verurteile, es in Bausch und Bogen abwerte. Auch sage oder denke ich nicht, dass Trotz böse oder irgendwie verkehrt ist. Dennoch beurteile ich die Situation so, dass es mir geboten erscheint, meinerseits dagegen zu halten.

Der Trotz des Kindes, könnte man sagen, fordert mich zum Tanz auf und als Tanzpartner stehe ich zu mir und bin ein Gegenüber, das gerade mit seiner Eigenständigkeit und Widerständigkeit zum Gelingen des Tanzes beiträgt. So kann der Trotz in den Fluss der Bewegung gebracht und das Kind aus seiner Erstarrung erlöst werden.

Das Jesuswort „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“ (Matthäus 7:1) ist eine ernstzunehmende Mahnung. Menschen sind komplexe, vielschichtige Wesen und das meiste davon entzieht sich unseren Blicken und unserer Erkenntnis. Ich hörte einmal von einer indischen „Faustregel“, nach der die Hälfte eines Menschen bei Gott und von der restlichen Hälfte wiederum die Hälfte unbewusst sei. Nur das letzte Viertel trete in Erscheinung und könne erforscht werden. Wir tun also gut daran, uns zu bescheiden und zu bedenken, dass wir immer nur Bruchteile beurteilen können, etwa das, was jemand sagt oder tut. Das meint auch der ähnlich lautende Rat Christi „Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.“ (Joh. 7,24) Denn sogar wenn jemand in unseren Augen als Verbrecher und schlimmer Übeltäter erscheint, wissen wir doch nie, wie der Himmel ihn richtet. Im Übrigen gilt das natürlich auch für uns selbst, denn wenn wir genauer hinschauen, wird uns schnell klar, dass wir uns selbst kaum kennen und oftmals nicht wissen, warum wird dieses oder jenes denken, fühlen oder tun. Auch uns selbst sollten wir nicht richten. Vielmehr geht es darum, uns in dem, was wir denken, fühlen, tun oder sagen, selbstverständlich zu werden.

Das Mahnwort des Messias warnt uns vor der karmischen Schuld, die wir unvermeidlich auf uns laden, sobald wir andere richten. Weil wir noch zu wenig lieben, um erkennen zu können, wer wir und die anderen in Wahrheit sind, werden wir uns und ihnen mit unserem Richterspruch nicht gerecht. Und dieses Unrecht muss „gerichtet“, in Ordnung gebracht, „repariert“ werden. Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, wie unser Richten gleich einem Bumerang zu uns zurückkehrt. Dann begegnen uns die Zerrbilder unserer Lieblosigkeit im Alltag und wir fühlen uns zunächst verkannt und ungerecht behandelt. Doch indem der Himmel uns auf diese Weise „richtet“, haben wir die Möglichkeit, uns selbst verständlicher zu werden.

Ehrfurcht vor dem Verborgenen in mir und dem anderen hält mich davon ab, mich oder mein Gegenüber schuldig zu sprechen. Gleichwohl kann und will ich nicht darauf verzichten, das Erscheinende, das Gesagte und Getane, zu beurteilen. Das gilt auch für alles, was mich im Innern anspricht. Hier ist mein Urteilsvermögen vielleicht noch wichtiger als in der Begegnung mit Menschen und Situationen. Es kommt mir eine Idee, ich erhalte einen Impuls und verspüre plötzlich den Drang, dieses oder jenes zu tun, ich fühle mich inspiriert und will anderen davon berichten oder sie für eine „gute Sache“ gewinnen. Sobald man einmal darauf aufmerksam wird, bemerkt man, dass es derlei Eingebungen oder Anregungen ziemlich oft gibt. Woher kommen sie? Was ist von ihnen zu halten? Atmen sie den Geist der Weisheit und Güte oder machen sie mich fanatisch und intolerant? Was bewegt mich da und wird mir – wenn ich zur Tat schreite – zum Beweggrund, zu meiner Motivation? Das zu prüfen, ist unerlässlich, wenn ich vermeiden will, Dinge zu tun und zu sagen, in denen ich mich selbst nicht wiedererkenne. Nicht alles, was mich innerlich anspricht, anregt und irgendwie Anstöße gibt, ist sinnvoll und gut. Ich muss entscheiden, was ich davon aufgreife, weiterverfolge oder in die Tat umsetze. Das geht, noch einmal, nicht ohne Urteil. Wir wissen durchaus von unguten Einflüsterungen. Man fragt jemanden, der etwas völlig Unverständliches und zugleich Schädliches getan hat, was ihn da „geritten“ hat. Offensichtlich ist das eine Anspielung auf den Teufel, so dass man auch fragen könnte: Welcher Teufel hat dich da geritten? Der Volksmund offenbart hier ein Gespür für eine ernstzunehmende Wirklichkeit. Nachweislich können Kräfte – um es einmal neutraler, naturwissenschaftlicher auszudrücken – mit uns durchgehen. Wir haben das in den letzten Jahren, die ich die Jahre der Glaubwürdigkeitskrise nenne, häufig beobachten können. Bislang unauffällige und unbescholtene Bürger ließen sich zu Handlungen hinreißen, die aufgrund fehlender Empathie und eiskalter Unbarmherzigkeit erschreckend destruktiv waren. Dabei sahen sich die Betreffenden selbst auf der Seite der Guten, der Solidarischen und Opferwilligen. Auch diese Selbstentfremdung soll uns eine Mahnung sein. Noch zu Goethes Zeiten konnte sich die dunkle Macht sicher sein: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte“[1]. Heute ist es höchste Zeit, die Versuchungen der Finsternis zu spüren, zu erkennen – und sich dagegen zu entscheiden.


[1] Faust I, Vers 2181 f. / Mephistopheles

Kommentare

[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.] 

Bitte aktiviere JavaScript in deinem Browser, um dieses Formular fertigzustellen.
Name

Beitrag veröffentlicht

in

von