Die Stillung des Sturms

Was unser Lebensschiff sicher durch die Wellen der Welt führt

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Wir leben in unruhigen Zeiten. Krieg, Naturzerstörung, wirtschaftlicher Niedergang, Verlust von Freiheitsrechten, diktatorische Vollmachten des Staates, Diffamierung Andersdenkender, die schiere Allmacht des Geldes – angesichts solcher Gefahren schlagen die Emotionen hohe Wellen. Schnell geraten wir aus dem Gleichgewicht, unser Lebensschiffchen bekommt Schlagseite und wir sind öfter nahe dran, zu kentern. Immer wieder drohen Angst, Trauer, Zorn oder Verzweiflung über uns zusammenzuschlagen. Wir werden aggressiv-kämpferisch, zynisch oder sentimental und suchen Rettung in irgendeinem Rausch. Was hilft uns, bei stürmischer See auf Kurs zu bleiben? Was bewahrt uns davor, im turbulenten Gewässer unterzugehen?

Ich meine, dass wir eine Antwort auf diese Fragen nicht in der uns erscheinenden Welt finden können. Wir haben zwar gelernt, uns mit unseren Problemen und Anliegen an eine der zahlreichen Wissenschaften zu wenden. Aber weder die Physik (Bootsbau) noch die Meteorologie (Wettervorhersage), noch die Nautik (Navigation), die Psychologie (Verhaltenstraining) oder gar die Philosophie (Stoizismus) sind in der Lage, uns in der konkreten Notsituation weiterzuhelfen. Das erworbene oder angelesene Wissen, unsere ganze Bildung erweist sich als praktisch machtlos, wenn uns der Wirbel der Zeit erfasst. Das haben gerade die letzten Jahre in erschreckender Deutlichkeit gezeigt. Die Rettung kommt nicht von außen, sondern aus der verborgenen Seite unseres Seins, aus dem Innern. Eine Antwort von dort teilt sich allerdings nicht in den exakten Begriffen der akademischen Wissenschaften mit, sondern in Gleichnissen, in mythologischen Erzählungen oder Traumbildern.

Solcherart sind auch die biblischen Erzählungen, inspirierte Bilder einer anderen Dimension. Nun ist im Lukasevangelium von einer Begebenheit die Rede, die ein neues Licht auf unsere Frage wirft:

„Und es begab sich an einem der Tage, dass er [d.h. Jesus] in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns ans andere Ufer des Sees fahren. Und sie stießen vom Land ab. Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Meister, Meister, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es ward eine Stille. Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube?“ (Lukas 8, 22-25)

Betrachten wir diese Erzählung als ein Traum, den es zu deuten gilt, stellt sich die Frage nach der hier verwendeten Symbolsprache. Ich möchte in diesem Beitrag eine Interpretation dieses Traumbildes versuchen, die natürlich nur eine von vielen möglichen sein kann. Zunächst sollten wir uns fragen, was das Boot ist. In der hebräischen Überlieferung wird zwischen einem Boot ohne Ruder, Tewa (תיבה), und einem mit Ruder, Anija bzw. Onija (אוניה) unterschieden. Mit dem Wort Tewa wird Noahs Arche bezeichnet aber auch das Kästchen, in das Moses als Säugling hineingelegt wird, bevor ihn seine Eltern in den großen Strom des Nils aussetzen. In diesen Fällen herrscht das Vertrauen vor, dass alles gut wird. Kein Ruder heißt, man verzichtet darauf, selbst den Kurs bestimmen zu wollen. In der oben zitierten Erzählung ist das anders. Hier geht es um ein Fischerboot, ein Boot also mit Ruder. Nun ist das Wort Anija nahe verwandt mit ani (אני), was „ich“ bedeutet (weibliche Form: anija). Das Ich ist also unser innerer Steuermann (oder Steuerfrau), der den Kurs selbst bestimmen will aber im gewissen Sinne auch selbst bestimmen muss.

Dieses Ich fährt „ans andere Ufer“, das heißt, es tritt seine Lebensreise an, die es von der Geburt hüben bis zu seinem Tod drüben führt. Es ist eine Reise durchs Wasser und Wasser gilt in der jüdischen Mystik seit alters als ein Symbol für die Zeit. Die Zeit fließt unaufhaltsam dahin und reißt alles, was sich darin befindet, mit sich. Während unseres Lebens in der erscheinenden Welt wird unser Ich vom Lauf der Zeit, mitunter auch von Zeitströmungen oder Modewellen, getragen. Das Ich existiert in der Zeit und rudert so gut es eben geht, um auf Kurs zu bleiben; es entwickelt sich, versucht Klippen zu umschiffen, erlebt Stürme und Flauten, erfährt dies und jenes, lernt, vergisst, wird älter und gelangt schließlich ans andere Ufer, ans Lebensende.

Kaum hat diese Ich-Fahrt durchs Leben begonnen, schläft der Christus ein. Was bedeutet das? Es ist ein großer, demütig stimmender Gedanke, dass ich nicht nur in Gott, sondern Gott auch in mir ist. Das Göttliche in mir ist verborgen, nicht offenbar, und kann im Grunde nur behelfsmäßig mit Bezeichnungen wie schöpferischer Wesenskern, Gottesfunke oder Monade umschrieben werden. Seine Existenz erinnert an das Pauluswort „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal. 2,20). Bei unserer Fahrt durchs Leben ist das innere Göttliche zwar mit dabei, aber es ist unserem Ich unbewusst, nicht erwacht; es schläft. Der Erlöser ist, könnte man sagen, noch nicht in uns auferstanden und deshalb droht unser Ich-Schiffchen im Wellenschlag der Zeit, im rasanten, endlosen Auf und Ab der Entwicklung, unterzugehen.

Nun sind auf diesem Boot die zwölf Jünger und sie sind es schließlich, die den Christus wecken. Die Zwölf stehen für alles, was sich in der Zeit offenbart, wie die zwölf Monate und die zwölf Tierkreiszeichen, durch die die Sonne Jahr für Jahr wandert. Mit der Zahl Zwölf drückt sich also die Ganzheit der erscheinenden Welt aus. Doch gerade weil jeder Monat des Jahres, jedes Sternzeichen des Zodiakus, vertreten ist, wird das Fehlende offenbar. Das ganze Jahr, der ganze Tierkreis ist da, alle Qualitäten, die sich in der Zeit ausdrücken können, sind versammelt. Doch das Wesentliche fehlt. Die Zwölf sehnen sich nach der 13 und es ist diese Sehnsucht, die schließlich das Dreizehnte, den Erlöser, zu wecken vermag. In der linearen Zeit ist ein 13. Monat genauso wenig möglich wie ein achter Wochentag. Das bedeutet, dass der Erlöser, der Dreizehnte, von außerhalb, von jenseits der Zeit kommt.

„Da stand er auf“, heißt es in dem vom Geiste inspirierten Wort des Evangeliums. Etwas erhebt sich in uns, richtet sich auf und „bedroht den Wind und die Wogen des Wassers“. Dieses Aufrechte steht senkrecht zur Fläche des Wasser, zur linearen Zeitachse. Es ragt in eine andere Dimension hinein. Das Bild erinnert an eine weitere mythologische Erzählung. Der heimwärts segelnde Odysseus lässt sich am Schiffsmast fesseln, sucht also auch Halt beim Aufrechten, um der Versuchung durch die Sirenen, deren betörender Gesang ihn übers Wasser zugetragen wird, standhalten zu können. Das, was beim listigen Helden Odysseus noch äußerlich war, richtet sich im Bilde der Bibel innerlich auf. Rudolf Steiner setzt es mit unserem wahren Ich gleich. Folgt man dieser Gleichung, müsste man das Schiffchen-Ich eher als „Ego“ oder weltliches, „kleines Ich“ anreden.

Das hebräische Wort für Wind, Ruach (רוח) bedeutet auch Geist. Mit anderen Worten, der Erlöser bändigt unseren unruhigen, von Angst und Verzweiflung bedrängten Geist. Wir sind dann, könnte man sagen, nicht länger „durch den Wind“. Vielmehr kehrt eine Stille ein, die es unserem Ich ermöglicht, gelassen auf die Verwerfungen zu schauen, die im Lauf der Zeit, im Fortgang der geologischen, klimatischen, kulturellen, technischen oder politischen Entwicklung immer wieder erscheinen. Die Stille tritt in dem Moment ein, da ich aus dem endlosen Zeitlauf herausgehoben werde, sobald also meine Gedanken nicht länger vergangenen Ereignissen nachhängen oder sich mit dem beschäftigen, was künftig vielleicht geschehen könnte. Es gibt immer noch ein Werden, meine Reise übers Wasser geht schließlich weiter, aber ich vertraue darauf, dass der Erlöser in mir, mich führen wird. Er steht für das Sein, aus dem alles Werden hervorgeht.

Mit dem Erwachen hat es eine besondere Bewandtnis. Es geschieht von einem auf den nächsten Moment, ohne dass Zeit vergeht. Es gibt zwar Dämmerzustände und doch ist die Feststellung, „jetzt bin ich wach“, auf einmal da. Man kann nicht konstatieren, dass man halb oder ein Viertel wach ist. Die Wachheit tritt immer ganz ein. Das zeigt uns doch schon, dass wir uns nicht zum Erwachen hin entwickeln, also allmählich wacher werden können. Die Entwicklung ist das Geschehen in der Zeit. Sie tritt als ständige Veränderung in Erscheinung und offenbart dabei ihren dualen Charakter: Kommen und Gehen, Blühen und Welken, Gewinn und Verlust, Aufstieg und Fall. Endlos wie Zeit und Raum ist sie und schon die Vorstellung dieser Endlosigkeit kann uns aus dem Gleichgewicht bringen. Das, was in uns erwachen will, entwickelt sich nicht; es ist.

Als der Sturm kommt, greifen die Jünger auf ihre Entwicklung zurück. Einige von ihnen sind erfahrene Fischer. Sie haben schon früher Unwetter auf See erlebt, wissen, wie man am besten durchkommt. Sie schauen in den Himmel, schauen aufs Wasser und vergleichen das, was sie sehen, mit früher Erlebtem, beurteilen die Lage, wägen ihre Optionen ab. Ihre Entscheidungen, ihre Bewegungen und Handgriffe sind das Ergebnis ihrer Entwicklung, ihres Werdegangs. Auch wir greifen auf Bewährtes oder auch weniger Bewährtes zurück, wenn wir in Not geraten, auf all das, was wir im Laufe unserer Entwicklung gelernt haben. Das heißt, wir bleiben mit unserem Denken und Handeln im Zeitlauf, schöpfen aus der Vergangenheit in der Hoffnung damit das, was auf uns zukommt, zu bewältigen. Doch in der höchsten Not erkennen wir, dass etwas ganz anderes nottut.

Ein Schrei der Verzweiflung durchbricht den endlosen Strom der Entwicklung, stößt in eine andere Dimension vor wie in das Auge eines Wirbelsturms. Plötzlich ist Stille da. Diese Stille, die mit großer Klarheit einhergeht (der Himmel klart auf), kann nicht in der Weise „erreicht“ werden, wie die Fischer das Ufer oder einen Anlegeplatz zu erreichen hoffen. Auf einmal erwacht etwas in uns und wir sind im Jetzt. Es geschieht nicht infolge von Anstrengung und Leistung, nicht durch die Anwendung einer Technik oder als Ergebnis fleißigen Übens. Auf diesem Weg des allmählichen Werdens bleiben wir immer in der Entwicklung. Dass wir an ihre Macht glauben, bekräftigen wir doch gerade mit all unserem Tun und Planen. Die Jünger auf ihrem Fischerboot kommen jedoch an den Punkt, wo ihnen all ihre Erfahrung und ihr Können nicht mehr helfen. Und in dieser Hilflosigkeit geschieht der Durchbruch, die Erkenntnis, dass Erlösung von woanders herkommt. Jesus heißt auf Hebräisch Jehoschua, von Jeho (יְהוֹ), der Herr, und yasha‘ (יָשַׁע), helfen, befreien. Die Jünger erinnern sich daran, dass „der Herr hilft“. Und ihre in der Not erwachte Sehnsucht wendet sich an diesen Herrn[1] mit absoluter Hingabe: Dein Wille geschehe!

Dann erwacht das Dreizehnte, der Erlöser, und dieser Messias ist eine Quelle der Freude. In der hebräischen Überlieferung wird darauf hingewiesen, dass die Worte Messias, maschiach (משיח) und Freude, simcha (שמחה) im Wesentlichen aus den gleichen Buchstaben bestehen. Es besteht demnach eine Verwandtschaft zwischen diesem Christus in mir und der Freude. Diese entsteht aber nicht infolge der Erleichterung über eine glückliche Fügung, über eine ruhige See und gutes Segelwetter. Es ist eine Freude, die unabhängig vom Geschehen in der äußeren Welt der Erscheinungen in mir lebt. Man könnte sagen, es handele sich um eine schöpferische Freude, die zu ihrer Entstehung keines Anlasses bedarf. Sie entsteht aus dem nichts, aus dem Verborgenen.

Doch wie ist das mit der Not? Müssen wir wirklich in Not sein, damit wir uns an unseren Ursprung erinnern und uns bemühen, das Göttliche in uns zu wecken? Braucht es wirklich einen lebensbedrohlichen Sturm mit haushohen Wellen, unseren unmittelbar bevorstehenden Untergang? Ich meine, es ist wichtig, den Sinn der biblischen Erzählung gerade in diesem Punkt klar zu sehen. Es ist nicht so, dass bei der Überfahrt zufällig ein „Windwirbel“ auftaucht und die Wellen über dem Ich-Schiffchen zusammenzuschlagen drohen. Jesus ist aber auch nicht mit den Jüngern hinübergefahren, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Das wäre pädagogisch berechnend und eigentlich ziemlich grausam. Nein, das Ich gerät auf seiner Lebensreise in Not, weil der Weg der Entwicklung wesentlich ein Weg der Not und Bedrängnis ist. Das ist es, was hier zum Ausdruck kommt. Solange wir im Zeitstrom stehen, sind wir Wirbeln ausgesetzt.

Es muss nicht immer Krieg, Elend und Unterdrückung sein. Auch das Dahinsiechen eines geliebten Haustiers, die bedrohliche Krankheit eines Freundes, der Verlust oder Diebstahl von Wertsachen, der Streit mit einem Vorgesetzten oder der Zweifel an der Sinnhaftigkeit unseres Tuns wecken in uns ein Gefühl von Bedrängnis. Es fehlt die Vollkommenheit, es fehlt die Einheit. Überall begegnet uns Vergänglichkeit und so ist die Sorge unser ständiger Begleiter, egal, ob wir sie verdrängen oder zur Kenntnis nehmen. Was wird aus mir? Was wird aus meiner Familie, meiner Arbeit, meinem Haus, meinen Ersparnissen? Die gesamte Natur unterliegt den Gesetzen der Entwicklung, doch nur für uns Menschen, die wir in der Lage sind, über Vergangenes nachzudenken, ist die natürliche Unbeständigkeit Anlass zu fortdauernder Sorge.  

Unser Lebensschiffchen ist keine Tewa, keine ruderlose Arche. Wir sind aufgefordert, selbst durch unser Leben zu navigieren. Noah gehört einer völlig anderen Welt an, einer Vorwelt; er konnte sich mit seiner Arche noch ganz der Strömung der Sintflut überlassen, sich gewissermaßen von außen lenken lassen. Wir dagegen haben die Aufgabe, uns einer inneren Führung anheimzugeben. Die wirkliche Herausforderung für uns ist es, trotz aller Nöte und Bedrohungen im Vertrauen zu sein, dass eine innere Weisheit und Güte uns führt. „Wo ist euer Glaube?“, fragt Jesus die Besatzung unseres Bootes. Es ist eine Frage von Sein oder nicht Sein.


[1] Über die Bedeutung vom Männlichen und Weiblichen in jedem Menschen gibt es Näheres im folgenden Beitrag:

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