Die Sehnsucht nach Heilung

Jenseits von Gesund und Krank

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Es scheint etwas typisch Menschliches zu sein, krank zu werden. Wild lebende Tiere erkranken nur sehr selten. Dagegen erwischt es Nutz- oder Haustiere, also solche, die mit Menschen zusammenleben, schon häufiger. Man mag das damit erklären, dass Tiere in der freien Wildbahn kaum je das Alter erreichen, in dem Krankheiten vermehrt auftreten. Sie sterben hungers, erfrieren oder werden gefressen. Unsere Nutztiere und mehr noch unsere Haustiere würden, so heißt es, von uns vor einem solchen Schicksal geschützt werden, sodass sie auch öfter mit Krankheiten zu tun bekämen. Bemerkenswert an dieser Erklärung sind zwei Annahmen. Die erste lautet, dass es für Säugetiere unnatürlich sei, so alt zu werden wie jene Exemplare, die wir in unsere Obhut nehmen. Die andere Annahme ist, dass jedes Lebewesen, das einmal ein solches „unnatürlich“ hohes Alter erreicht hat, unabwendbar mit Krankheit konfrontiert werde. Damit wäre die Anfälligkeit des Menschen für Krankheiten aller Art die Folge seiner zivilisationsbedingten Lebensweise, mit Zentralheizung, Doppelverglasung und drei Mahlzeiten am Tag. Denn nur unter diesen „künstlichen“ Bedingungen erreiche er das Alter, in dem Krankheiten vermehrt auftreten. Ich befürchte, dass diese biologistische Sichtweise recht weit verbreitet ist. Im Grunde erklärt sie den Menschen zu einem degenerierten Tier. Schon allein deswegen muss sie den Sinn des Menschseins und damit auch den Sinn der Krankheit verfehlen.

Nun sind Annahmen, wie die eben erwähnten, ebenfalls etwas typisch Menschliches. Offenbar sind nur wir Menschen intellektuell in der Lage, Überzeugungen oder Glaubenssätze zu entwickeln, auch wenn wir uns ihrer oftmals nur halb oder gar nicht bewusst sind. Wir bilden so etwas wie subjektive Theorien, auf deren Grundlage wir unsere Erfahrungen und Beobachtungen zu erklären suchen. Wir wissen inzwischen, dass Menschen, die überzeugt sind, eine schwere Krankheit sei im Alter nun einmal unausweichlich, tatsächlich ein höheres Risiko laufen, davon betroffen zu werden. Der Einfluss solch schädlicher Glaubenssätze böte im Übrigen einen anderen, weniger biologistischen Ansatz, um die höhere Anfälligkeit unserer Haustiere für Krankheiten zu erklären. Ich halte es zumindest für möglich, dass sich unsere Katzen und Hunde so sehr auf unser Gemüt einstellen, dass sie sich auch der Wirkung unserer Grundüberzeugungen aussetzen. Träfe das zu, wäre es ein Grund mehr, sich über derlei Grundannahmen Klarheit zu verschaffen.

Dass wir über unsere Natur und den Verlauf unseres natürlichen Lebens nachdenken, zeigt bereits, dass wir mehr sind als nur eine Naturerscheinung. Wild lebende Tiere gehen sichtlich stärker in ihrem natürlichen Dasein auf. So erreichen sie in ihrer jeweiligen Erscheinung einen Grad an Vollkommenheit, der für uns Menschen unerreichbar bleibt. Wir gehen in Afrika auf Safari, um uns an dieser Vollkommenheit und an der Schönheit von Löwen, Gazellen und Elefanten zu ergötzen. Etwas Vergleichbares suchen wir aber vergeblich an einem FKK-Strand mit lauter nackten Menschenleibern. Der Mensch ist nun einmal nicht ganz in der Natur beheimatet. Seine Domäne ist eine Art Zwischenreich – weder ganz Natur noch ganz Geist. Im Vergleich zu uns ist jedes Tier mit größerer Selbstverständlichkeit in seinem Körper zu Hause. Dagegen ist unser Verhältnis zu unserem Organismus distanzierter; die Triebe erschrecken uns, das Eigenleben unserer Organe bleibt uns fremd und die Veränderungen im Alter betrachten wir bedauernd und letztlich verständnislos.

Als Naturwesen mögen wir das Ideal eines gesunden, heilen Körpers haben, kräftig, gelenkig, schön und völlig beschwerdefrei. Als Geistwesen aber streben wir nach Heilung im Sinne des Heil- oder Ganz-Werdens. Diese Heilung verstehe ich als erlebte Einheit von Zeitlichkeit und Ewigkeit, die Vereinigung unseres seelisch-geistigen Wesenskerns mit dem, was hier als belebte Physis erscheint. In der Sprache der jüdisch-christlichen Mystik geht es um die Vermählung des göttlich-geistigen Bräutigams mit der irdisch gewordenen Braut, eine heilige, heil-machende Hochzeit. Körperliche Gesundheit im Sinne eines perfekt funktionierenden Organismus ist für ein so verstandenes Heil-Sein keine zwingende Voraussetzung. Dass wir uns in unserem Körper wohl fühlen, dass wir vital und ohne Beschwerden sind, mag eine Begleiterscheinung jener inneren Heilung sein, gewiss. Aber diese Einheit kann sehr wohl auch erlebt werden, während wir zum Beispiel an physischen Schmerzen oder einer Organschwäche leiden.

Die Evangelien sind voll von Wunderheilungen. Und da wir so sehr daran gewohnt sind, diese Erzählungen als historische Berichte zu betrachten, gehen wir automatisch davon aus, dass jene Wunderheilungen wörtlich gemeint, das heißt, physisch zu verstehen sind. Es stört uns nicht, Jesus als eine Art Schamane oder Magier zu sehen, der seiner Zeit mit geheimen Tricks, rituellen Handlungen oder irgendwelchen Zauberformeln die Menschen von ihren körperlichen Leiden befreite. Als moderner, aufgeklärter Mensch sucht man dann nach physikalischen Erklärungen für derlei Phänomene und kommt vielleicht zu dem Schluss, dass Jesus ein Pionier der quantenmechanischen Heilkunde war oder mit großem Geschick Suggestivkräfte einzusetzen wusste.

Selten aber fragt man sich, was eigentlich damit gewonnen ist, wenn der Blinde tatsächlich das Augenlicht erhält oder der Gelähmte wieder gehen kann. Sicher, der Betroffene wird sich zunächst sehr freuen. Aber innerlich ändert er sich dadurch doch nicht. Weiterhin sind weder sein Glück noch seine Freude noch auch seine Liebe bedingungslos; er ist auch nach seiner Wunderheilung unausgeglichen, das heißt, sehr leicht durch allerlei Eindrücke beeinflussbar. Vielleicht wird er sogar von der Angst umgetrieben, dass seine Heilung von beschränkter Dauer sein könnte. Dann fürchtet er ständig den Rückfall. Oder er ist besonders stolz darauf, dass gerade ihm die Gnade der Heilung zuteilwurde, hält sich selbst für etwas Besonderes, sieht sich als Auserwählter. Sollte das die Absicht des Erlösers sein? Noch bedenklicher ist die Bilanz bei jenen, die wie Lazarus vom Tode auferweckt wurden. Er war bereits gestorben, hatte diese Herausforderung bereits bestanden. Und dann wird er zurückgeholt und muss all das in einigen Jahren nochmal durchmachen. Hätte ihn der Wundertäter nicht besser im Jenseits gelassen? Dort ging es ihm gewiss gut und nun ist er zurück in die enge Behausung des physischen Körpers. … Nein, jemand, der herumgeht und die Menschen überall von ihren körperlichen Leiden befreit, ist vielleicht ein Zauberer; ein Erlöser ist er nicht.

Der Erlöser ist in uns und Er macht uns innerlich sehend, das heißt, er ermöglicht uns die Sicht auf die göttliche Wahrheit. Denn wir sind blind in Bezug auf unsere geistige Realität. Wir sind nicht imstande, durch den Schleier der erscheinenden Welt hindurchzuschauen. Der Erlöser befreit uns auch von unserer „Lähmung“, das heißt, von unserer Unfähigkeit, den Weg zurück in die Einheit zu gehen. Wir mögen Marathonläufer sein oder mit großem Erfolg die Karriereleiter besteigen, solange wir nicht auf dem Weg zu uns selbst sind, gehen wir nirgendwo hin. Der äußerliche Aktionismus täuscht lediglich über die innere Lähmung hinweg. Und wenn es heißt, dass der Erlöser uns vom Tode aufweckt, dann bedeutet es, dass er uns aus dem Strom der Zeit hebt und in die Ewigkeit, in das ewig seiende Jetzt geleitet. Mit anderen Worten, der innere Erlöser macht uns heil, ganz, heilig.

Wenn wir heil werden, treten Glauben und Vertrauen an die Stelle von Angst und Zwang. Es gibt viele Menschen, die Angst vor Krankheit und Leiden haben, heute vielleicht mehr denn je zuvor. Aus dieser Angst heraus entwickeln sie allerhand Zwänge, seien es bestimmte Diätvorschriften, denen sie sich unterwerfen, seien es positive Einstellungen, die sie meinen, sich selbst suggerieren zu müssen, seien es teure Präparate, die unbedingt einzunehmen seien, um die immer gefährdete Gesundheit zu erhalten. Und wenn sie dann tatsächlich bis ins hohe Alter fit bleiben, sehen sie sich darin bestätigt, dass die peinliche Befolgung bestimmter Vorschriften sie gesund erhalten habe. Vielleicht brüsten sie sich gar mit ihrem Erfolg. Aber die Angst bleibt, weil sie spüren, dass es irgendwann doch bergab gehen wird.

Wir können Vertrauen üben. Bedingungslose Freude oder Liebe heißt doch, dass sie von keinem Umstand abhängen, auch nicht von einem gesunden, vitalen Körper. Leiden kommen, Leiden gehen. Wir fragen uns, woher sie kommen, was sie bedeuten. Wenn wir einen Tag lang schwere Gartenarbeit verrichten, sind wir nicht besonders überrascht, am nächsten Morgen mit Muskelkater aufzuwachen. Haben wir viel Süßes gegessen, sind wir auch nicht weiter erstaunt, wenn uns wenig später schlecht wird. Daraus können wir lernen, solche Unannehmlichkeiten in Zukunft zu vermeiden. Aber oftmals rätseln wir vergebens, woher diese oder jene Krankheit kommt. Das ist der Moment, Vertrauen zu üben. Vertrauen wir darauf, aus unserer göttlich-geistigen Seite des Seins durchs Leben geführt zu werden, finden wir zur Gelassenheit. Wir hadern nicht mit unseren Leiden, wir suchen keinen Schuldigen, trachten nicht danach, eine Änderung zu erzwingen. Dann heilen wir von innen heraus – und werden frei von Zwang.

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