Die Heilung der Dualität durch den Geist der Versöhnung

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Zwei Welten

Wir kennen die physische Welt, in der wir leben, insofern, als wir Sinneseindrücke von ihr erhalten. Sie erscheint uns in Bildern, Farben, Klängen, Gerüchen, Druck- sowie Wärme- und Kälteempfindungen und so weiter. Man nennt sie dementsprechend die erscheinende Welt. Wir erfahren sie so, wie sie unseren Sinnen erscheint. Das Denken, das auf diesen Erfahrungen fußt, nennen wir Verstandesdenken. Es macht aus den ungeordneten Sinneseindrücken verständliche Wahrnehmungen. Wir nehmen wahr, dass die Erscheinungen, die räumlich nebeneinander und zeitlich nacheinander da sind, einer stetigen Veränderung unterliegen. Alles Physische unterliegt der Vergänglichkeit, nichts bleibt so, wie es erscheint. Sehr schnelle oder sehr langsame Veränderungen, stets gemessen an der menschlichen Lebensdauer, können wir zwar nicht unmittelbar erkennen, doch durch verschiedene Beobachtungen auf ihr Vorhandensein schließen.

Wegen der Vergänglichkeit alles Erscheinenden wurde die physische Welt immer schon als Gegenpol oder Abbild eines ewigen Seins erlebt. Das Sein tritt nicht in Erscheinung, kann nicht als Sinneseindruck erfahren werden. Auch der innere Mensch, das Zentrum unseres Denkens, Fühlens und Wollens, tritt nicht in Erscheinung. Obwohl wir erfahren, dass Gedanken, Gefühle und Willensimpulse kommen und gehen, erleben wir doch, dass der innere Mensch in seinem Kern von Dauer ist, über eine Kontinuität verfügt. Diese gefühlte Beständigkeit bleibt uns durch das Leben hindurch, obwohl sich der Körper in seiner Erscheinungsform doch mehr oder weniger stark verändert. So spürt der Mensch, dass er über seine nicht erscheinende, verborgene Seite, das heißt als geistiges „Ich“ mit der Ewigkeit verbunden ist, während er andererseits mit seiner Physis Teil der vergänglichen Welt ist.

Es gehört offenbar zum Schicksal des Menschen, dass er sein Dasein in der Dualität von Diesseits und Jenseits verbringt. Als physische Erscheinung steht er im Strom der Zeit, ändert sich, entwickelt sich, schreitet fort, altert und vergeht. Seine Leiblichkeit ist ein irdisches Phänomen, wie das Erscheinende auf Latein genannt wird, und den Gesetzen der Natur zwingend unterworfen. Für die allermeisten von uns gilt, dass unser Bewusstsein, zumindest tagsüber, auf diese physische Realität fokussiert ist. Die Zentrierung ist mitunter so stark, dass die Betroffenen schlussfolgern, es gäbe überhaupt keine andere Realität. Doch das ist eine Täuschung – wie ja generell der Welt der Erscheinungen oder des Scheins eine gewisse Irreführung nachgesagt wird. Verlagert sich der Bewusstseinsfokus ins seelisch-geistige Sein, übersehen wir die Zeit und sind unvergänglich. Wegen dieser klareren und weiterreichenden Sicht verbinden wir die Welt des Seins mit dem Licht. Demgegenüber wurde die Welt der Erscheinungen immer schon mit Dunkelheit oder Finsternis assoziiert.

Man solle die Andersartigkeit dieser Realitätsdimensionen nicht unterschätzen. Zwischen beiden Sphären besteht nicht bloß ein gradueller oder quantitativer Unterschied. Vielmehr tut sich zwischen Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit, Sein und Dasein eine schier unüberbrückbare Kluft auf. Die Ewigkeit ist eine Bewusstseinsqualität, in der es Raum und Zeit, wie wir sie auf der Erde erfahren, nicht gibt. Das bedeutet, dass Ewigkeit nicht als etwas gedacht werden darf, dass irgendwann oder irgendwo existiert. Folglich ist die Vorstellung von einem Weg, einem Entwicklungsweg zur Ewigkeit irreführend. Sie kann wortwörtlich nicht „erreicht“ werden. Und damit haben wir ein Problem, denn unser an der Sinneswelt geschulte Verstand kann nur Entwicklung und Fortschritt denken, Übung, Anstrengung und allmähliches Vorankommen. Schon Bewusstsein an sich stellt er sich räumlich vor und siedelt die von ihm gewünschte „Stufe“ irgendwo „höher“ an oder versteht sie als „Erweiterung“.

Vater und Sohn

Ich verstehe uns Menschen bildlich gesprochen als Wesen, die den Auftrag haben, eine Brücke über den Fluss zwischen Jenseits und Diesseits zu bauen. Meiner Ansicht nach ist das mit dem Wort vom „Himmel auf Erden“ gemeint, kein Paradiesgarten, nicht irgendein florierendes Ökodorf etwa, sondern den Zugang zum Himmelreich in uns, und zwar während wir uns zugleich in einer irdischen Erscheinungsform befinden. Doch wie kann es zu dieser Einheit von Sein und Erscheinung, von Himmel und Erde kommen? Wie sähe sie aus?

Um mich einer Antwort annähern zu können, greife ich einen Hinweis des bemerkenswerten esoterischen Lehrers Georg Iwanowitsch Gurdjieff auf. In seinem außergewöhnlichen Buch „Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, eine objektive unparteiische Kritik des Lebens des Menschen“ spricht er von drei Urkräften, deren Wirkung man überall im Kosmos beobachten könne. Er nennt sie: Heilige Bejahung, Heilige Verneinung und Heilige Versöhnung.

Ich setze diese drei Qualitäten mit der christlichen Dreieinigkeit oder der Dreifaltigkeit Gottes in Verbindung. Das tat Gurdjieff nicht – zumindest nicht in seinen Schriften. Ich vermute aber, dass er durchaus so gedacht hat. In dieser Zusammenschau vertritt der Gottvater, also der Schöpfer von allem, was ist, das Prinzip der Heiligen Bejahung. Ich denke, man kann die Erschaffung der Welt mit Recht als die positive Tat schlechthin bezeichnen. Der Gottvater in uns ist das Ich, entsprechend dem Bibelwort „Ich bin der ich bin“ aus dem zweiten Buch Mose (2 Mose 3,14). Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass das russische Wort für „Ich“ als „ja“ (я) ausgesprochen wird.

Als zweite Qualität der Dreifaltigkeit kommt die Heilige Verneinung im Sohn Gottes zum Ausdruck. Es mag unseren christlich konditionierten Ohren zunächst befremdlich klingen, dass der Messias in einem Atemzug mit Verneinung, also etwas Negativem genannt wird. Man solle aber die Bezeichnung „negativ“ nicht moralisch verstehen, sondern eher so wie in der Elektrizität, wo der negative Pol ja auch nicht als „schlecht“ angesehen wird. Die indische Philosophie ist da weniger wertend. Sie kennt ebenfalls eine Trinität, und in dieser hinduistischen Trimurti kommt die Heilige Verneinung in der Gestalt des Gottes Shiva zum Ausdruck, der uneingeschränkt als Gott der Zerstörung oder Umwandlung verehrt wird. Dass Christus als Sohn Gottes mit Verneinung und Zerstörung zu tun hat, zeigt sich an mehreren Stellen in den Evangelien. Ich denke da vor allem an die Worte, mit denen er selbst seine Aufgabe beschreibt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Matthäus 10,34) Der Gottessohn verneint seine Zugehörigkeit zum irdischen Reich und stellt unmissverständlich klar: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18,36) Folglich verneint er auch die Blutsverwandtschaft, die Vererbungslinie könnte man sagen, zugunsten der Verbindung im Geiste, indem er sich weigert, seine Mutter und Brüder zu begrüßen (Matthäus, 12,46-50; Markus 3,31-35, Lukas 8,20-21). Christus sagt nein zu den Pharisäern, nein zu den Sadduzäern, stellt das herrschende Weltbild auf den Kopf. Und am Ende erfährt er selbst die Zerstörung seines Leibes und die völlige Verneinung durch die Welt. Dadurch, dass der Gottessohn meint, er sei in meiner irdischen Welt nicht zu Hause, steht er mir als das andere gegenüber, als das fremde Du.

Versöhnung

Wir haben im Gottvater das Bejahende, im Gottessohn das Verneinende. Und noch einmal möchte ich auf eine Parallele zum Hinduismus hinweisen. Da gibt es einerseits die Affirmation Tat Twam Asi aus der indischen Vedanta-Lehre und andererseits den Sinnspruch Neti-Neti aus dem Jnana Yoga. Erstere ist bejahend: Das bist du und letzterer ist verneinend: Nicht so, nicht so. Bleibt also noch das Prinzip der Heiligen Versöhnung. Dieses bringe ich mit der dritten Qualität der Dreifaltigkeit in Verbindung, mit dem Heiligen Geist. Da fällt mir eine Schilderung aus der Apostelgeschichte ein: „Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab“ (Apg. 2,4). Hier erscheint das Wirken des Heiligen Geistes insofern versöhnend, als es alle Hürden in der Verständigung überwindet. Alle verstehen sich, obwohl sie eigentlich unterschiedliche Sprachen sprechen. Das mit den Sprachen muss man nicht wörtlich nehmen. Man kann die Wirkung des Heiligen Geistes auch so verstehen, dass er Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Meinungen oder Sozialisierungen zusammenbringt. Das erinnert an ein anderes Christuswort: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20). Der Heilige Geist ist das Verbindende, das Zusammenführende. Erlebe ich den Gottvater als das bejahte Ich, den Gottessohn als das jedes irdische Weltreich verneinende Du, so sehe ich im Heiligen Geist ein Gemeinschaft bildendes Wir.

Im Johannes-Evangelium wird der Heilige Geist als „Tröster“ bezeichnet (Joh. 14,26). Was uns tröstet, ist die Herzens-Gemeinschaft mit anderen Menschen. Darin fühlen wir uns auf eine Weise verbunden, die über das physische Dasein hinausweist. Die geistige Gemeinschaft lebt durchaus von der konkreten Begegnung mit anderen. Sie gründet nicht in der Verneinung des Physischen, aber auch nicht in der ausschließlichen Bejahung des Ich. In der vom Heiligen Geist inspirierte Menschengemeinschaft wird das Sein mit dem Dasein, das Himmlische mit dem Irdischen versöhnt.

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