Das ewige Sein und seine Entfaltung in der Zeit
Das Enneagramm ist ein machtvoller Schlüssel zur Erkenntnis, dessen Entstehung im Dunkeln einer fernen Vergangenheit liegt. Es soll in einem sehr alten, geheimen spirituellen Orden entstanden sein. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hat es der griechisch-armenische Esoteriker Georg Iwanowitsch Gurdjieff. Wie viele Zeitgenossen bestätigen, verfügte Gurdjieff über einen besonders hohen Bewusstseinsgrad sowie ein bemerkenswertes Wissen. Er nutzte das Enneagramm unter anderem, um anhand davon die Wirkweise kosmischer Gesetze darzustellen. Gurdjieff lehrte, dass alles Wissen im Enneagramm zusammengefasst und gedeutet werden könne. Er ging sogar so weit, zu behaupten, dass man nur das wirklich wisse oder verstehe, was man in das Enneagramm einzufügen vermag. Ausführlich berichtet darüber sein Hauptschüler Pjotr Demjanowitsch Ouspensky.[1]
Obwohl das griechische Wort ennea neun bedeutet, hat das Symbol einen deutlichen Bezug zu den Zahlen sieben und drei, oder in den Worten Gurdjieffs zum Gesetz der Sieben, dem Oktavgesetz, und dem Gesetz der Drei. Das Enneagramm besteht aus drei Teilen, einem gleichseitigen Dreieck, ein Gebilde bestehend aus sechs miteinander verbundenen Linien sowie einem Kreis, der die Zahl Null symbolisiert. Wie die sechs Linien der zackigen Figur im Kreis der Neun angeordnet sind, ist keineswegs zufällig. Die Zahlenfolge 1 – 4 – 2 – 8 – 5 – 7 ergibt sich, wenn man eins durch sieben teilt. 1 : 7 = 0,142857. Dabei setzt sich die Zahlenreihe endlos hinter dem Komma fort. Wenn man zwei durch sieben teilt, kommt dieselbe Zahlenreihe zustande, wobei sie allerdings an einer anderen Stelle anfängt. 2 : 7 = 0,285714. Dasselbe Muster findet man bei drei geteilt durch sieben und so weiter.
Da es sich beim Enneagramm um ein universales Symbol handelt, in dem, wie Ouspensky schreibt, alles Wissen „zusammengefasst“ werden kann, ließe sich fast unendlich viel dazu sagen. Und so wundert es nicht, dass seit Gurdjieffs Tod 1949 viele Bücher darüber geschrieben wurden. Exemplarisch erwähnt seien hier neben dem grundlegenden Werk Ouspenskys, das englischsprachige Buch „Enneagram Studies“ vom prominenten Gurdjieff-Schüler John Godolphin Bennett[2] und „Das Enneagramm“ von Klausbernd Vollmar.[3] In diesem Beitrag möchte ich mich auf eine einzige Anwendung des Symbols beschränken, nämlich die Darstellung der Heiligen Dreieinigkeit oder Trinität. Diese Darstellung entstand aus einer Eingebung heraus innerhalb weniger Minuten. Sie stellt den Versuch dar, die Bedeutung der Trinität im Schöpfungsplan nachzuspüren. Nachfolgend fasse ich in Worte, wie ich diese Darstellung verstehe.
Die Entfaltung in der Zeit: der Kreislauf um das Enneagramm herum
Stellt man die Schöpfung als ein zeitliches Geschehen dar, so lassen sich dabei drei Impulse Gottes unterscheiden. Sie sind hier als die Grundtöne Do1, Do2 und Do3 bzw. als Vater, Sohn und Heiliger Geist dargestellt.
Do1 – Kraft Seines Willens erschafft der Vater alles, was ist. Es wirkt das Prinzip der Heiligen Bejahung. Die Schöpfung ist Ausdruck Seiner Gerechtigkeit. Alles ist recht in dem Sinne, dass alles seinen Ort, sein Maß und seine Zeit hat. Gott sieht, heißt es im hebräischen Schöpfungsbericht, dass alles gut ist. Die Schöpfung ist eine Offenbarung Gottes – auch wenn dies dem Menschen in der Zeitlichkeit erst im Lauf seiner Entwicklung erkennbar wird.
Do2 – Die Entwicklung des menschlichen Lebens in der Zeit endet mit dem Tod. Damit der Mensch nicht im natürlichen Kreislauf von Geburt (also Schöpfung), Leben und Tod eingesperrt bleibt, ist ein weiterer Impuls Gottes erforderlich. Mit Seiner Hingabe als tätige Liebe, dem Sohnes-Prinzip, überwindet er den natürlichen Tod. Dieser Impuls ist im Grunde die Heilige Verneinung des Todes. Die Physis geht gar nicht verloren, sondern wird reiner Ausdruck des Geistes. Das ist die Auferstehung.
Do3 – Der Auferstandene kehrt – wie es heißt – zurück zum Vater. Aber Er schickt uns den Heiligen Geist. Nach dem Willen oder der Gerechtigkeit erstens und der Hingabe oder Liebe zweitens ist die Erkenntnis oder Wahrheit der dritte Aspekt Gottes, der nun in Erscheinung tritt. Der Heilige Geist ermöglicht die Erkenntnis der Wahrheit, das heißt, die Erkenntnis der grundlegenden Einheit allen Lebens. Man erkennt darin das Werk des dritten Prinzips, der Heiligen Versöhnung. Der Heilige Geist offenbart uns, was die unfassbare Liebestat des Sohnes eigentlich ist, was Hingabe bedeutet. Diese Offenbarung erlöst uns vom Zwang, der uns so lange beherrscht, wie wir ohne Hingabe sind. Mit der Erlösung erfüllt sich die Sehnsucht nach dem Vater.
Die ewige Absicht Gottes: die innere Struktur des Enneagramms
Im Inneren dieser zeitlichen Entwicklung pulsiert sozusagen die ewig währende Absicht Gottes. In der Verbindung der Punkte 1-4-2-8-5-7 lässt sich der Große Plan des Schöpfers erahnen. Seine Absicht ist immer als Ganzes da, vollständig, ohne Anfang, ohne Ende. Wenn man versucht, davon zu sprechen, folgt naturgemäß ein Satz dem anderen und es entsteht der Eindruck einer zeitlichen Reihenfolge, einer Entwicklung. Das ist verständlich, verfehlt aber das Wesentliche, denn alles ist gleichzeitig da.
Die Verbindung 1 – 4: Mit der Schöpfung im Sinne der Zeitlichkeit sieht der Vater zugleich den Tod voraus, denn jedes Geschöpf ist endlich. Alles Erscheinende vergeht.
Die Verbindung 4 – 2: In dieser Vergänglichkeit erscheint das Leben, wird die Schöpfung beseelt.
Die Verbindung 2 – 8: Das Leben ist da, weil es ohne Leben keine Erlösung gibt. Die Erlösung bedarf des Lebens, der Seele, in der zu erlösenden Welt.
Die Verbindung 8 – 5: Erlösung der erscheinenden Welt bedeutet die Vermählung der Schöpfung mit ihrem Schöpfer. Das ist die Auferstehung.
Die Verbindung 5 – 7: Die Auferstehung offenbart die Einheit von Schöpfer und Geschöpf, Geist und Materie.
Die Verbindung 7 – 1: Die Offenbarung bringt somit den Sinn der Schöpfung ans Licht. Hier sind das Alpha und Omega eins. Die Schöpfung IST Offenbarung.
Das Küchenmodell nach John G. Bennett
Als Beispiel einer praktischen Anwendung des Enneagramms, aber auch als Vergleich zu meinem hier vorgestellten Modell füge ich noch das Küchenmodell nach John G. Bennett an.[4] Ich werde stichpunktartig dieses Modell vorstellen und ihm zugleich die in meiner Darstellung verwendeten Begriffe gegenüberstellen. Meine Hoffnung ist, dass dadurch meine Ausführung anschaulicher wird.
Phase 1: Die Küche ist bereit, fertig eingerichtet; alles ist an seinem Platz, es herrscht Ordnung. Ich spreche hier von „Schöpfung“.
Phase 2: Die Küche arbeitet; sie erwacht zum Leben, könnte man sagen; das Personal wird aktiv. In meiner Darstellung steht hier „Leben“.
Phase 3: Von außen werden rohe Nahrungsmittel in die Küche gebracht. In gewissem Sinne opfern sich die pflanzlichen und tierischen Lebewesen. Bei mir steht hier der „Sohn“, der ebenfalls von außen kommt und sich hingebungsvoll opfert.
Phase 4: Die Nahrungsmittel werden hergerichtet, geschält, geschnitten, gehackt. Sie werden also kaputtgemacht. Passend dazu heißt es in meinem Modell an dieser Stelle: „Tod“.
Phase 5: Das Essen wird gekocht. Es kommt zu einer Umwandlung, die man mit einem alchemistischen Prozess vergleichen könnte. Bei mir steht an diesem Punkt: „Auferstehung“.
Phase 6: Von außen kommt die Gemeinschaft der Gäste hinzu. Der „Heilige Geist“, wie es bei mir heißt, kommt ebenfalls als Gast und schafft Gemeinschaft.
Phase 7: Das Essen wird serviert. Es ist gewiss nicht ganz falsch, da von einer „Offenbarung“ zu sprechen.
Phase 8: Die Mahlzeit wird gegessen. An dieser Stelle steht bei mir „Erlösung“. Oberflächlich betrachtet könnte man sagen, dass die Gäste nun von ihrem Hunger „erlöst“ werden. Aber in einem tieferen Sinne sind es die pflanzlichen und tierischen Lebewesen, die durch die Assimilation in einem menschlichen Körper erlöst werden.
Phase 9: Leben! Das Essen hält unseren Körper am Leben. Fortlaufend wird Leben geopfert, um Leben zu erhalten. An der Spitze des Dreiecks steht bei mir „Vater“. Er ist der Schöpfer des Lebens, der sich selbst in der Gestalt des Sohnes hingibt, um uns vom Tod zu erlösen.
[1] P.D. Ouspensky, Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Perspektiven der Welterfahrung und der Selbsterkenntnis, Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern München Wien, 19803, Seite 421f. und insbesondere Seite 432.
[2] J.G. Bennett, Enneagram Studies, Samuel Weise, Inc., Maine, 1983
[3] K. Vollmar, Das Enneagramm. Praktische Lebensbewältigung mit Gurdjieffs Typenlehre, Goldmann Verlag, München, 1993
[4] J.G. Bennett, Enneagram Studies, Samuel Weise, Inc., Maine, 1983, Seite 22f.
Kommentare
[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.]