Begegnung mit dem Bösen

Eine Prüfung

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Auf Erden scheint das Böse Teil unserer Realität zu sein. In fernen oder auch nicht so fernen Ländern gibt es Kriege, kaltblütiges Morden, Folter, Zerstörungswut. Aber auch in unserer näheren Umgebung sehen wir uns mit der dunklen Seite unserer Natur konfrontiert. Wir erleben Menschen, die von düsteren Gedanken gedrückt werden, die zutiefst pessimistisch, ängstlich und verzweifelt sind, zynisch und fanatisch agieren, intolerant und gebieterisch auftreten. Es sind Erfahrungen, die uns verstören. Wir spüren, dass sie uns nicht guttun, denn sie bedrohen unsere Gemütsruhe und Ausgeglichenheit. Mitunter scheint das Böse so mächtig zu sein, dass es uns in Angst und Schrecken versetzt. Angesichts dieser Übermacht fühlen wir uns hilflos und die Hilflosigkeit fordert uns heraus. Wir wollen etwas tun, können es aber nicht. Diese Ohnmacht ist eine schmerzhafte Selbsterfahrung, aber ausgerechnet sie kann uns für die Realität des Guten empfänglich machen.

Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass wir mit Ohnmachtsgefühlen nicht gut umgehen können. Wir wollen nicht dem Willen eines anderen oder dem blinden Zufall ausgeliefert sein. Meistens versuchen wir auf die eine oder andere Art die Kontrolle über unser Leben zu erhalten. Und so reagieren manche angesichts des Bösen mit erhöhtem Tatendrang, einer Mobilisierung des Widerstandes, Protestaktionen und Belehrungen, die bisweilen fanatische Züge annehmen. Sie sind überzeugt, dass man dem Bösen die Stirn bieten müsse. Im Innern angetrieben von der Angst vor Überwältigung üben sie Zwang aus. Dann spürt man die Aggressivität, mit der sie all jene, die sich ihren Aktionen nicht anschließen, moralisch unter Druck setzen.

Foto: © Michael Raabe, https://www.michael-raabe.de/

Weitaus größer, so scheint mir, ist die Gruppe derer, die sich mit Apathie und ständigen Ablenkungen dem Bösen zu entziehen suchen. So gut es geht, verschließen sie die Augen vor dem himmelschreienden Unrecht und der abgründigen Brutalität in der Welt. Gelingt es einmal nicht mehr, das Übel auszublenden, verweisen sie zur eigenen Beruhigung gern auf angebliche Naturgesetze: Der Löwe frisst das Zebra, die Spinne fängt die Fliege in ihrem Netz, überall verdrängt oder vertilgt der Stärkere den Schwächeren. Es sei nun einmal unumgänglich, so folgern sie daraus, sich auf Kosten anderer durchzusetzen. Lange denken sie aber nicht darüber nach und bald wenden sie sich wieder anderen Dingen zu: der Sicherung und Vermehrung ihres Wohlstandes, dem Erfolg ihrer Kinder oder den Reizen einer Freizeitbeschäftigung.

Einfühlsamere Menschen gelingt es angesichts des Bösen nicht so leicht, sich selbst zu beruhigen. Sie verstehen, dass sie die Brutalität und Heimtücke nicht bekämpfen können, ohne dabei selbst böse zu werden. Gleichzeitig ist für sie der Fluchtweg in die Betäubung und Verdrängung nicht gangbar. Diese Ausweglosigkeit erzeugt einen inneren Druck, den Druck des Gewissens. Man leidet am Dasein des Bösen und spürt, dass etwas ganz und gar nicht stimmt, dass die irdische Schöpfung so nicht sein sollte. Man möchte gläubig sein, doch hadert mit Gott. Diese innere Spannung, so unangenehm sie sein mag, kann zu einem Durchbruch in eine Dimension jenseits des Verstandes führen. Man sieht das Schreckliche und vermag es nicht zu fassen. Und wie in den biblischen Psalmen ruft man aus innerster Not den Geist Gottes um Hilfe.

Nicht immer gelingt es uns, die innere Spannung, die Dissonanz einer fehlenden Harmonie zu ertragen. Das führt gelegentlich dazu, dass wir die Existenz des Bösen leugnen, als sei es eine Art optische Täuschung. Was uns als böse erscheint, so versichern wir uns selbst, sei in Wahrheit eine Form von Liebe. Wer böse handele, meine es eigentlich gut. Wir sollten uns einer Bewertung enthalten, besser gar nicht erst von „gut“ oder „böse“ sprechen. Was wir damit aussagen ist, dass es das Böse letztlich nur in unserer Bewertung gibt. Wenn wir nicht bewerten, sehen wir uns lediglich unterschiedlichen Erfahrungen und Energien gegenüber. Sie alle dürfen sein; wer sind wir, uns ein Urteil anzumaßen?

Foto: © Michael Raabe, https://www.michael-raabe.de/

So wichtig es ist, unsere Ansicht zu relativieren und daran zu erinnern, dass wir im physischen Dasein meistens nur die eine Seite der Medaille sehen, bleibt doch die Begegnung mit Gewalt, Hass, Lüge und Niedertracht eine zutiefst verstörende Erfahrung. Das Böse, wie es hier auf Erden wirkt, ist real. Es ist keine Theaterinszenierung zum Zwecke unserer moralischen Erziehung. Der Schmerz, das Leid und die Verzweiflung sind keine Einbildung oder eine bloß fehlinterpretierte Erfahrung. Ich sage nicht, dass sie die gesamte Realität ausmachen. Sie sind sicherlich nicht das letzte Wort des Schöpfers. Aber sie sind da. Und die offene Frage nach dem Grund dafür, nach dem Wozu des Bösen, klafft in unserem Bewusstsein wie eine schmerzende Wunde.

Unser Gewissen sagt uns, dass Hass und Grausamkeit nicht gottgewollt sein können. Mitunter höre ich, wie behauptet wird, es sei für den Menschen nun einmal notwendig, alle denkbaren Erfahrungen zu machen, so als gäbe es ein kosmisches oder karmisches Programm, das von Anfang bis Ende durchlaufen werden müsse. Gewiss beruhigt uns diese Vorstellung, erklärt sie doch sogar noch die schlimmste Bestialität und den dunkelsten Abgrund zum Teil einer göttlichen Vorsehung. Aber sollte das der Wille Gottes sein, dass wir alle mal die Erfahrung machen, einen anderen Menschen zu quälen und zu töten oder von anderen gequält und getötet zu werden? Weshalb sollte die Liebe das von uns erwarten? Kann die Liebe das überhaupt wollen?

Foto: © Michael Raabe, https://www.michael-raabe.de/

Für mich ist es offensichtlich, dass das Böse so lange da ist, wie wir uns dafür entscheiden. Würde Gott uns diese Entscheidungsmöglichkeit nehmen, verlören wir die Freiheit, zu lieben. Gott mag allmächtig sein, er kann uns aber nicht zur Liebe zwingen. Es ist an uns, uns dafür zu entscheiden. Die Existenz des Bösen lässt sich nicht dadurch rechtfertigen, dass man es zum unumgänglichen Vollzug karmischer Urteile erklärt. Würde jede böse Tat mit einem bösen Schicksal vergolten, gäbe es in der Welt keine Gnade – und das Leid würde nie aufhören. Gott ist nicht nur der gerechte Richter, der darüber wacht, dass jeder erhält, was ihm zukommt. Er lebt auch in der weiblichen Qualität Seines Wesens als Erbarmen. Gerade dieser mütterliche Aspekt prägt doch das In-der-Welt-Sein Gottes, das in der hebräischen Mystik Schechina heißt.

Wahrheit ist nicht ohne Liebe und Liebe nicht ohne Wahrheit. Deshalb kann es kein gerechtes Urteil ohne Erbarmen geben. Heute ertönt überall der Ruf nach Wahrheit. Alles Heimliche und Verborgene, alle bösen Machenschaften, sollen ans Licht kommen. Von der Wahrheitsfindung erhoffen wir uns Gerechtigkeit. Aber oft bleibt das Gerechtigkeitsverständnis in der Dualität von Betrüger und Betrogene, Täter und Opfer stecken. Dann ist der Ruf nach Wahrheit nicht frei von Rechthaberei und dem Wunsch nach Genugtuung. Wer liebt, wünscht keinem etwas Böses, auch nicht eine sogenannte „gerechte“ Strafe. Er hofft, dass Gott uns richtet, uns recht macht, in Ordnung bringt, wohl wissend, dass er selbst es nicht kann. Wo wir nicht lieben, bleibt uns die Wahrheit verborgen.

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