Über die Gefahr einer inneren Scheinheiligkeit
Neulich hörte ich von einem Freund, dass jemand, der sich selbst als Druide bezeichnete, ihm geraten habe, er könne ruhig eine Weile scheinheilig sein, irgendwann werde er dann schon von selbst heilig. Es wurde eher nebenbei gesagt, wie eine flüchtige Anekdote, und ich reagierte nicht darauf. Nun, mit etwas Abstand, bringt sich mir diese sonderbare Behauptung in Erinnerung. Ich versuche zu verstehen, wie sie als sinnvollen, hilfreichen Rat verstanden werden könnte. Aber es gelingt mir nicht. Für sich genommen, kommt sie mir vielmehr unsinnig vor. Da mir die genannte Empfehlung aber auch symptomatisch für unsere Zeit erscheint, gehe ich in diesem Beitrag näher darauf ein.
Das Problem mit der Scheinheiligkeit ist nicht so sehr, dass wir anderen etwas vorgaukeln, sondern dass wir uns selbst etwas vormachen. Man könnte ja durchaus argumentieren, dass der Scheinheilige mit seinem sozialen, uneigennützigen und vorbildlichen Verhalten jede Gemeinschaft in praktischer Hinsicht bereichere. Er ist hilfsbereit, lässt anderen den Vortritt, zeigt für alles Verständnis und dergleichen mehr. Zwar wären manche vielleicht peinlich berührt oder irritiert, weil sie spürten, dass mit diesem Menschen etwas nicht stimme, aber von außen betrachtet wäre sein Tun nicht zu beanstanden – ganz anders als beim unverblümten Egoisten. Schaut man aber genauer hin, sieht man, dass ein Mensch, der Güte oder Mitgefühl heuchelt, in sich eingeschlossen ist. Und er ist es insbesondere dann, wenn er selbst überzeugt ist, das zu sein, was er doch nur vorgibt. Spielt er in voller Absicht Theater, erreicht er die anderen nicht. Fällt er aber auf seine eigene Komödie herein, kommt er nicht zu sich. Ich unterscheide also hier zwischen äußerer und innerer Scheinheiligkeit.


Üblicherweise verstehen wir unter Heuchelei ein absichtliches oder bewusstes Verhalten. Es entspricht unserer Vorstellung vom Scheinheiligen, dass er sich über andere erhebt, indem er sich als der bessere Mensch darstellt, edelmütig und selbstlos. Nicht selten dürfte seine heimliche Botschaft die sein, dass sich alle an ihm ein Vorbild nehmen sollten. Auf diese Weise vertieft er die Kluft zwischen sich und anderen, anstatt sich ihnen als Mensch mit naturgemäßen Stärken und Schwächen zu nähern. Indem er anderen absichtlich etwas vorspielt, ist er ein Betrüger, der auf ihre Kosten sein Vorteil sucht. Sobald er unter Leuten ist, wird ein solcher Mensch berechnend und kann sich niemals erlauben, spontan zu sein.
Das ist natürlich ein krasser Fall von Heuchelei und wer christlich geprägt ist, mag sich dabei an Pharisäer erinnert fühlen, hochmütige Herren in makellosen Gewändern, die sich selbst als weit über jeden Schmutz und jede Dummheit erhaben betrachteten. Mit diesem Vergleich rutschen wir schnell in ein geschichtliches Denken und blicken auf fremde Leute, die zu jener Zeit so eingebildet und verblendet waren, dass sie den Christus nicht erkannten. Wir stellen also die Heuchelei aus uns heraus, veräußerlichen sie, zeigen auf diese Scheinheiligen damals und sind sogleich versucht zu denken, wir selbst sind nicht so, wir sind keine Blender und Betrüger. Nein, in der Tat, so natürlich nicht, so theatralisch und karikaturartig! Aber können wir ausschließen, dass wir uns selbst etwas vormachen? Sind wir, mit anderen Worten, frei von innerer Scheinheiligkeit?
Verlassen wir also nun die offene Bühne, auf der wir dieses oder jenes darstellen, und ziehen uns in den Umkleideraum zurück, wo wir mit uns selbst alleine sind, wo wir vor dem Spiegel sitzen und uns abschminken. Wie aufrichtig sind wir mit uns selbst? Ich stelle diese Frage insbesondere vor dem Hintergrund dessen, was man Autosuggestion nennen könnte. Darunter verstehe ich vereinfacht gesagt die Technik, seine eigene Wirklichkeit zu ändern, indem man sich eine andere Wirklichkeit vorstellt und einredet. Es geht also um die Manipulation unserer momentanen Wirklichkeit durch gezielte Einbildung. Denn man sagt sich dabei nicht, ich wünsche mir Erfolg oder ich hoffe auf Erfolg, sondern ich bin erfolgreich. Diese Manipulation wird gerade in Kreisen spirituell interessierter Menschen als Ausdruck unserer inhärenten Schöpferkraft verstanden. Aber was bringt uns zu der Annahme, dass unsere momentane Wirklichkeit verändert werden soll? Und woher wissen wir, welche Wirklichkeit für uns die Bessere wäre?


Kehren wir an dieser Stelle zur Ausgangsfrage zurück, nämlich, ob wir durch Scheinheiligkeit zu Heiligkeit gelangen können. Vor dem Hintergrund der Selbstbeeinflussung heißt das konkret: Werden wir gütig, wenn wir so tun, als seien wir es bereits, mehr noch, wenn wir nicht nur so tun, sondern es auch wirklich glauben? Was passiert, wenn wir uns selbst suggerieren, wir seien glücklich, in der Annahme, somit unsere Wirklichkeit zu verändern? Fallen wir da nicht einer Art Selbsthypnose zum Opfer? Breiten wir dadurch nicht einen Schleier oder Deckmantel aus Wunschvorstellungen und Erwartungen über uns selbst und nehmen uns damit die Möglichkeit dieses Selbst anzuschauen, es zu erforschen?
Psychologisch gesehen ist es ein interessantes Phänomen, dass wir überhaupt in der Lage sind, uns selbst erfolgreich etwas vorzumachen oder einzureden. Es setzt offensichtlich eine innere Spaltung voraus, die Trennung zwischen einem, der Einfluss ausübt, und einem, der beeinflusst wird. Auf der einen Seite sind wir in einem Zustand, den wir ablehnen oder mit dem wir zumindest nicht zufrieden sind. Und von dort aus visualisieren oder evozieren wir einen anderen Zustand, den wir für optimal halten, um uns dann mit diesem zu identifizieren. Typischerweise bestätigt die Theorie der Autosuggestion diese Zweiteilung. So heißt es etwa, dass wir uns selbst in eine andere Realitätsdimension oder Zeitlinie versetzen, von hier nach dort.
Was aber ist Heiligkeit? Wir wissen ja, dass das Wort heilig von heil kommt, was ganz und unversehrt bedeutet, auf Englisch whole und dementsprechend holy. Ein Heiliger ist also jemand, der in der Ganzheit oder Einheit lebt. Für ihn ist die Trennung von Ich und Du, von Innen- und Außenwelt nicht länger real, weder im Denken noch im Fühlen oder Empfinden. In dieser Einheit liegt die Anerkennung und Akzeptanz dessen, was ist, keine Ablehnung oder Auflehnung, keine Furcht, kein Wunsch, es zu verbessern. Freude kommt, Freude geht, Trauer kommt, Trauer geht – der Heilige lässt es geschehen.

Es gelingt uns vielleicht, uns einzureden, dass wir voller Freude und Dankbarkeit sind. Dann „erschaffen“ wir uns eine andere Stimmung und fühlen uns besser. Aber die Traurigkeit, die Langeweile oder der Zorn, sind die nicht auch Teil unserer Realität? Wenn sie da sind, sind sie da. Ich sage nicht, dass wir uns damit abfinden sollten. Keineswegs! Ich meine nur, dass wir sofort aus der inneren Einheit fallen, wenn wir sie ablehnen und weghaben wollen. Stattdessen könnten und sollten wir sie erforschen, uns fragen, woher sie kommen, was sie uns über uns selbst sagen. Sie sind Symptome und wir wissen doch, dass wir nicht heil werden, wenn wir bloß die Symptome bekämpfen. Es ist uns nicht immer möglich, uns unverhohlen zu äußern. Aber es scheint wichtig zu sein, uns selbst nichts zu verhehlen.
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