Spiritualität zwischen Himmel und Erde
Gibt es eine spezifisch weibliche beziehungsweise männliche Spiritualität? Die Frage stellte sich mir neulich in einem Seminar zum Thema Neue Erde. Meditieren, kontemplieren oder beten Frauen anders als Männer? Unterscheidet sich ein weiblicher Glaube von einem männlichen? Stimmt es, dass Frauen eine innigere Beziehung zur Mutter Erde haben? Und sind Männer wirklich näher am himmlischen Vater dran? Es dürfte klar sein, dass die Mann-Frau-Dualität, so wie jede Dualität, zur erscheinenden oder materiellen Welt gehört. In den geistigen Sphären der Seelen und Engel, gibt es diese Zweiheit nicht. Unsere Seelen, soviel scheint sicher, sind geschlechtslos. Ist also das Gerede von weiblicher und männlicher Spiritualität unsinnig?
In der altjüdischen Überlieferung, der Kabbala, gibt es eine interessante Sichtweise auf die Mann-Frau-Dualität. Dort ist nämlich alles, was in Erscheinung tritt, per se weiblich. Das heißt, dass der Körper eines jeden Menschen als weiblich angesehen wird. Das Männliche dagegen ist das, was in jedem Menschen das Verborgene, das Innere, ist. Der chassidische Mystiker Friedrich Weinreb hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das hebräische Wort für „männlich“, sachar (זכר) mit dem Wort für „erinnern“, lehisacher (להיזכר ב…ִ) eng verwandt ist. Das, was uns an unseren geistigen Ursprung erinnert, ist das Männliche in jedem von uns. Der Körper, der uns ein Leben auf dieser Erde ermöglicht, ist dagegen weiblich. Er ist das Offenbare, das das Geistige verhüllt. Da alles Vergängliche, wie Goethe sagt, „nur ein Gleichnis“ ist, gibt es auf der rein biologischen Ebene dazu Entsprechungen. So ist es das Weibliche, welches das Körperliche hervorbringt. Und während der Schwangerschaft umhüllt das Weibliche das Verborgene. Ähnlich ist es im Geschlechtsakt, wo das Weibliche das Männliche umhüllt und in sich birgt.
Biochemisch betrachtet ist jeder Körper, ob weiblich oder männlich, aus Elementen der Erde zusammengesetzt, das, was man poetisch unser „irdenes Gefäß“ nennt. Er ist Materie, eine Bezeichnung, die schon den Bezug zum Weiblichen erkennen lässt, heißt doch das lateinische „mater“ Mutter. Das englische „mother“ und das niederländische „moeder“ sind wiederum verwandt mit dem deutschen „Modder“, was so viel wie Schlamm, also Erde, bedeutet. Das heißt nun aber nicht, dass weibliche Menschen irdischer sind, sondern dass jeder Mensch über seinen Körper mit der Erde verbunden ist. Dieser Körper ist ein Geschöpf, das aus einem anderen Geschöpf hervorgeht. Doch der Schöpfer bleibt im Verborgenen; er ist das nicht Offenbare, mit anderen Worten das Geistige. Jeder Mensch ist also zugleich weiblich und männlich, so wie auch jeder Mensch eine natürliche und eine geistige Seite hat.
Seit einigen Jahren entdecke ich immer öfter weibliche Züge in Männern und männliche in Frauen. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Vermischungen auf kulturelle Gepflogenheiten oder spezifische Moden zurückzuführen sind. Ich sehe sie jetzt deutlicher, weil ich älter geworden und mein Blick nicht mehr so sehr auf das biologische Geschlecht fokussiert ist. Vermutlich war die biologische Zuordnung des Menschen immer schon von bloß relativer Bedeutung. Beispiele für männliche Frauen oder weibliche Männer gab es auch in früheren Zeiten. Betroffene, die daraus den Schluss ziehen, ihren Körper mittels Operationen auf die eigene Gefühls- und Empfindungswelt zuschneiden zu müssen, zeigen vor allem, dass sie nicht verstanden haben, dass sie diesen Körper in ihrer verborgenen Geistigkeit selbst erschaffen haben und in jedem Moment weiterhin erschaffen. Das uns allen innewohnende Geistige, Jenseitige, wird von ihnen nicht erahnt, geschweige denn erkannt.
Was ich hier im Anschluss an die jüdische Mystik hervorhebe, ist die spirituelle Bedeutung von weiblich und männlich. Sie gilt für alle Menschen gleichermaßen. Was sich in der materiellen Welt als biologische und psychologische Mann-Frau-Dualität darstellt, hat lediglich Gleichnis-Charakter. Das weibliche Geschlecht ist eine Entsprechung der leib- und lebensspendenden Schöpfung; das männliche Geschlecht steht gleichnishaft für die befruchtende Kraft des schöpferischen Geistes. Und noch einmal: Jeder Mensch ist sowohl als auch, Geschöpf und Schöpfer. Dass beide Prinzipien in der materiellen Welt auseinanderbrechen und als Zweiheit erscheinen, betrachte ich als eine Fügung von großer Weisheit. Diese Dualität hilft jedem von uns auf seinem Weg zur Wahrheit und Liebe. Denn mit der Trennung ist die Möglichkeit der Auseinandersetzung gegeben, wodurch wir vom ganz anderen lernen und das ganz andere lieben können.
Wenn Menschen in weiblichen Körpern insgesamt nachdrücklicher für die Achtung und Bewahrung der Schöpfung eintreten, so zeigt sich darin eine stärkere Identifikation mit dem konkreten lebendigen Dasein, mit allen Verkörperungen auf Erden. Eine intensivere Identifikation mit dem überirdischen Potenzial des schöpferischen Geistes zeigen dagegen Menschen in männlichen Körpern, die von Erfindungen träumen, welche das irdisch-Natürliche übersteigen. Solche Träume können die visionäre Vorwegnahme einer spirituellen Entfaltung sein. Dass sie in den letzten Jahrhunderten in materieller Form mechanistisch und elektrotechnisch realisiert wurden, ist einzig das Ergebnis menschlicher Entscheidung, nicht das kosmischer Notwendigkeit.
Der Erde als Mutter aller Geschöpfe und Hüterin des Lebens wohnt eine Weisheit inne, die zu achten uns allen nottut. Generell gesehen finden weiblich inkarnierte Menschen, wie es scheint, leichter Zugang zur Großen Mutter als männlich inkarnierte. Diese wären gut beraten, wenn sie das Plädoyer der Frauen für die Achtung des natürlichen Lebens ernstnähmen.
Doch ist es, wie ich meine, nicht die spirituelle Aufgabe männlicher Menschen ihrerseits auch noch Fürsprecher der großen Mutter zu sein. Ist ihre Bestimmung nicht vielmehr, Sprachrohr des „Großen Vaters“, eines kosmischen schöpferischen Prinzips, zu sein? Wenn der weibliche Mensch für den Erhalt des Lebens und der Schöpfung Verantwortung trägt, so darf man vielleicht sagen, dass der männliche Mensch die Aufgabe hat, Lebenssinn zu erschaffen.
Sinngebung ist tatsächlich ein schöpferischer Akt. Im Bild des Erscheinenden, in jedem Aspekt der Schöpfung, einen Sinn zu erahnen und dieses Sinnbild in Worte zu fassen, kann ich mir als spirituelle Aufgabe des männlichen Menschen vorstellen.
Mit der Sprache hat es eine besondere Bewandtnis. Unsere Worte sind nicht nur Mittel zur Verständigung zwischen Menschen, sie schaffen auch eine Verbindung zwischen der erscheinenden, diesseitigen, und der verborgenen, jenseitigen Welt in uns. Sogar unseren unbewussten Gedanken liegen Worte zugrunde. Ich erinnere an den berühmten Prolog des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ Es zeigt, dass mit dem Wort etwas Ursprüngliches, Schöpferisches verbunden ist. Nun ist es wichtig zu verstehen, dass diese ursprüngliche, kreative Kraft im Jetzt gegenwärtig ist. Es heißt ja im Anfang und nicht am Anfang. Man verstünde die zitierten Sätze falsch, würde man sie als einen geschichtlichen Bericht auffassen. „Vor sehr, sehr langer Zeit, sozusagen am Tag eins der Geschichte, gab es einmal ein Wort …“ Nein, so ist es nicht. Im Anfang heißt im Kern, so wie ein Samen, der bereits den ganzen Baum in sich trägt. Das kreative Potenzial des Wortes lebt in jedem Moment des Seins. Ein Ja-Wort, eine Beschwörung, eine Lüge, ein Gelübde, ein Fluch oder die Worte eines sehnsuchtsvollen Stoßgebets – sie alle haben das Potenzial, Wirklichkeit zu kreieren. „Sprich nur ein Wort“, sagt ein Gläubiger zu Jesus, „und mein Knecht wird gesund werden.“ (Lukas 7,7) Heilende Worte!
Könnte der männliche Mensch Hüter sinngebender, ja vielleicht sogar heilender Worte sein? Ich meine, ja. Doch dazu ist es für ihn notwendig, sein Verständnis von schöpferischem Geist zu vertiefen. Der Intellekt, der sich im Verstandesdenken erschöpft, ist beschränkt. Sein größtes Manko besteht darin, dass er sich leicht und immer wieder in Abstraktionen verliert. So entstehen Begriffe, Berechnungen, Modelle, Konzepte, die uns in die Lage versetzen, Dinge zu konstruieren, egal ob Brücken, Maschinen, Fahrpläne oder Gedankengänge und Argumentationen. Der schöpferische Geist konstruiert nicht, plant nicht, ist weder berechnend noch nützlich im Sinne des Nützlichkeitsprinzips. Wir können ihn nicht beherrschen, denn das, was beherrschen will, ist unsere Macher-Seite, das berechnende und konstruierende Ego. Damit der schöpferische Geist vernommen wird, muss das Ego schweigen.
Es sind harte Worte, die der Prediger Paulus in seinem Brief an die Korinther formuliert: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen sollen die Frauen schweigen in den Gemeindeversammlungen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.“ (1. Korinther 14, 33-34) Viele liberale Theologen und Theologinnen unserer Zeit bemühen sich, diese Aussage zu kontextualisieren, abzumildern oder als Missverständnis darzustellen. Leicht ist das nicht, denn allzu deutlich sind die Worte. Deshalb winken viele ab und sehen in Paulus den typischen Vertreter des herrischen Patriarchats. Betrachtet man seine Aussage aber vor dem Hintergrund, dass wir alle weiblich und männlich sind, offenbart sich ein ganz anderer Sinn. Damit eine geistige Gemeinschaft, eine „Gemeinde der Heiligen“, entstehen kann, muss das Erscheinende, das körperliche, „schweigen“, so dass Impulse, Inspirationen und Intuitionen aus dem Verborgenen, dem Geistigen, vernommen werden können. Solange wir mit unserem Körper, unserem Äußeren identifiziert sind, ist unser Ego entsprechend laut und dominant. Dann kann Gemeinschaft nicht gelingen. Paulus ermahnt uns also, uns nicht von Äußerlichkeiten übertönen zu lassen. Das Geistige, das Männliche, in uns, soll zu Wort kommen.
Aber wie wird es vernommen? Wie finden sinngebende Worte zu mir? Grundlegend, wie mir scheint, ist meine wache Präsenz im gegenwärtigen Moment. Der Intellekt entfernt sich immer aus dem Jetzt, ist mitunter in Gedanken weit weg. Verweile ich aber in der Gegenwart, ist meine Aufmerksamkeit janusköpfig, zugleich nach außen wie nach innen blickend. Ich betrachte das Offenbare und horche ins Verborgene hinein. Man könnte sagen, ich befinde mich zwischen den Welten, und diese Position ist entscheidend. Ob sich aus dem Verborgenen etwas zu dem, was sich meinen Sinnen offenbart, verlauten lässt, habe ich nicht in der Hand. Ich kann lediglich in der Bereitschaft sein, mich inspirieren zu lassen. Dies ist die Empfänglichkeit, die männliche Menschen wagen sollten.
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