Die Welt als Abbild der Wahrheit

Ohne Sonne kein Mondlicht

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Wahrheit verstehe ich als das allumfassende Sein, welches im Dasein der Schöpfung immer und überall seinen Ausdruck erzeugt. Sie kennt keine Abstufung, keine Hierarchie und auch keine Entwicklung. Weder gibt es Orte oder Dimensionen, die näher an der Wahrheit sind, während andere ihr fernstehen, noch sind bestimmte Zeiten wahrer als andere. Auf den Berggipfeln sind wir dem Geist Gottes nicht näher als in den Tälern. Auch gibt es nicht mehr davon in den Wäldern als in den Städten. Die Sonne ist nicht wahrhaftiger als der Mond. Ebenso wenig hat der Geist der Wahrheit seinen Sitz auf der Zentralsonne unserer Galaxis, von wo aus sein Licht die Erde kaum erreicht, so dass wir zu einem Leben in Schein und Täuschung verdammt sind. Morgens oder tagsüber sind wir diesem Geist nicht näher als abends oder nachts. Und so steckt auch nicht mehr Wahrheit in der Kindheit als im Alter.

Wenn wir das allumfassende Sein begrenzen und es örtlich oder zeitlich verstehen, mögen wir zu heiligen Orten pilgern oder heilige Stunden für unsere Rituale reservieren. Aber der Wahrheit entsprechend ist entweder alles heilig oder nichts. Soll etwa der Vogel, weil er sich in die Lüfte erheben kann, heiliger sein als der Wurm, der sein Leben im Dunkel der Erde fristet? Kein Guru war jemals heiliger als seine Jünger. Beide sind Ausdruck der gleichen Wahrheit. Wenn der Guru wirklich ein Meister ist, sieht er das. Es sind die Jünger, die es nicht sehen, und die deshalb meinen, dass sie einen weiten Weg zu gehen haben, um so zu werden wie ihr Guru. Sie blicken auf die Tonleiter, die den Aufstieg von ihrem Ton zum Oktav ihres Meisters darstellt. Und doch sind in jedem Ton sämtliche Oktaven immer schon enthalten.

Die Welt, die wir erfahren, ist keine Täuschung, keine irreführende Matrix, kein Programm böser Mächte, das uns gefangen hält. Wir sind es, die wir uns täuschen, wenn wir nicht sehen, dass Wahrheit in allem ist. Rudolf Steiner bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Nicht die Welt als solche, die auf unsere Sinne einwirkt, die wir erfassen mit unserem Verstande, ist eine Maja; diese Welt ist in dem innersten Wesen wahrhafte Wirklichkeit. Aber die Art, wie sie der Mensch anschaut, wie sie dem Menschen erscheint, das macht die Welt zur Maja, das macht sie zur großen Täuschung.“[1] Kein anderes irdisches Lebewesen scheint dieser Täuschung zu unterliegen. Offenbar ist nur der Mensch aus dem Paradies dieser „wahrhaften Wirklichkeit“ gefallen. Der Zustand, in dem wir die Wahrheit nicht sehen, wird seit alters Verblendung genannt. Diese ist grundlegend, unabhängig davon wo und in welcher Zeit wir leben oder was wir erfahren.

Zu sagen, dass das Dasein Ausdruck des Seins ist, bedeutet, die Welt als Sinnbild zu betrachten. Das Bild selbst ist nicht der Sinn, aber es hilft uns, ihn zu verstehen. Es ist daher nicht so, dass uns die weltlichen Dinge die Sicht auf die Wahrheit verstellen; sie sind keine Hindernisse auf unserem Weg zur Erkenntnis. Im Dasein spricht sich das Sein aus. Wie ist das zu verstehen? Wenn uns jemand anspricht, hören wir zwar die einzelnen Wörter, aber jedes für sich ergibt noch keinen Sinn. Der Sinn des Gesagten offenbart sich uns erst in ganzen Sätzen. Das heißt, der Sinn spricht sich in Ganzheiten aus. So wie im Satz die einzelnen Wörter in eine Beziehung zueinander gesetzt sind, können wir dem Sinn dessen, was da ist, verstehen, wenn wir dazu in Beziehung treten. Dann schauen wir die Ereignisse, Lebewesen und Dinge, die uns begegnen, zusammen mit dem, was wir tun oder sagen, was uns einfällt und wie wir gestimmt sind. Wir ahnen, dass die Welt sich auch in uns selbst ausspricht. Aber ohne Beziehung bleibt jedes Bild und damit auch jede Erfahrung sinnlos.

Der Mond verweist auf die Sonne, denn sein Licht ist ihr Abglanz. Wir sehen die stete Veränderung seiner Erscheinung, dieses andauernde Zu- und Abnehmen, weil das unveränderliche Sein der Sonne da ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Mond gar nicht real oder bloß eine Täuschung wäre. Auch er ist ein Sinnbild. Die Mondphasen hängen bekanntlich mit Wachstumsprozessen auf der Erde zusammen und so enthüllt uns das Bild des Mondes die Beziehung von zeitlicher Entwicklung und ewigem Sein. Dass sich uns das Ewige und Unvergängliche in der Gestalt des Zeitlichen und Veränderlichen zeigt, rührt an ein Mysterium, in das uns nur das Leben einweihen kann.

Würden wir unser Dasein im Dunkel einer endlosen Nacht fristen und nur das Mondlicht kennen, müssten wir annehmen, dass es nichts anderes als zyklische Veränderung gäbe, ein unaufhörliches Kommen und Gehen ohne Mitte, ohne Stille. Wir sähen im Mondlicht nicht den Abglanz der Sonne, würden vielmehr alle Hinweise auf den Ursprung seines Lichtes als bloßes Gerede von Schwärmern und Fantasten beiseiteschieben. Solange wir ganz in der Zeitlichkeit aufgehen, sind wir gewissermaßen mondsüchtig, fixiert auf das Vorankommen in der Zeit. Wir geben uns diesem Fortschritt hin und verfolgen dabei Ziele, die ein Produkt der Vergangenheit sind. Ohne es zu bemerken, drehen wir uns im Kreis, verlieren uns in den Weiten der Welt und bleiben blind für das Sein im Dasein. Dann allerdings wäre der Mond ein unüberwindliches Hindernis auf unserem Weg zur Erkenntnis der Wahrheit des Seins.

Am Tage sehen wir das Sein, in der Nacht erscheint das Dasein. Das ist sinnbildlich gesprochen. Sofern wir in der Zeit leben und alles – uns selbst inklusive – lediglich als zeitlich befristetes, vorübergehendes Phänomen verstehen, ist unsere Welt eine Nachtwelt. Aus diesem Grund wird vom Erwachen gesprochen, wenn es darum geht, das Sein im Dasein zu erkennen. Es geht also nicht darum, das Sein jenseits des Daseins, oder die Wahrheit irgendwo hinter einer als trügerisch verstandenen Welt zu suchen. Ebenso wenig geht es darum, dass Sein als Illusion abzutun und nur das weltliche Dasein als Wirklichkeit anzuerkennen. Wer die Welt als Täuschung betrachtet, wird an seiner Ohnmacht verzweifeln, da er sich von einem bösen Gott, dessen er sich nicht erwehren kann, hinters Licht geführt sieht. Er kann diese Welt, von der er doch selbst ein Teil ist, nicht hinter sich lassen und empfindet sie wie ein düsteres Verlies. Wer dagegen die Welt als das einzig Wirkliche ansieht, verzweifelt an der Sinnlosigkeit seines Daseins.

Die Welt war immer und wird immer ein Ausdruck der Wahrheit sein, so wie das Leben Ausdruck der Liebe ist. Ohne Welt können wir Wahrheit nicht erkennen, ohne Leben Liebe nicht erfahren. Erinnern wir uns daran, ahnen wir, was Frieden sein könnte.


[1] Rudolf Steiner, Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung, GA 161, Seite 65ff., Vortrag vom 2. Februar 1915, Dornach 19992

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