Jenseits von Gewinnen und Verlieren
Unsere Gesellschaft und die Gesellschaften weltweit bringen Gewinner und Verlierer hervor. Das ist offensichtlich und zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie in der Erziehung. Ob man zu den einen oder anderen gehört, bedingt bereits das Elternhaus – gerade in Deutschland, wo das Bildungsniveau und die finanzielle Lage der Eltern sowie deren Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu maßgeblich über die Schulerfolge ihrer Kinder entscheiden. In den Schulen wird früh selektiert und spätestens am Ende der vierten Klasse sind die Weichen für die Laufbahn in die eine oder andere Richtung gestellt. Man kann diese Tatsache als unvermeidlich hinnehmen und darauf verweisen, dass manche nun einmal intelligenter sind als andere, dass die Gesellschaft doch beides braucht, Führungspersonal und Fußvolk. Oder man kann diesen Umstand auf sozio-ökonomische Ungleichheiten zurückführen und ihn als eklatante Ungerechtigkeit anprangern. Mich interessiert hier aber etwas anderes, nämlich die Frage, wie sich die Gewinner- und Verlierermentalität auf die Psyche des Menschen, auf seine Selbstwahrnehmung, sein Selbstverständnis und damit auch auf seine Spiritualität auswirkt.
Die letzten 15 Jahre meiner Tätigkeit als Montessori-Lehrer war ich Klassenleiter von Gruppen, die sich aus den Jahrgängen vier, fünf und sechs zusammensetzten. Schon diese sogenannte Jahrgangsmischung war ein Versuch, die Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern aufzuheben oder zumindest aufzuweichen. Jedes Schuljahr wechselte ein Teil der Viertklässler ins Gymnasium, während die anderen, die dazu nicht in der Lage waren, zurückblieben. Ich konnte also aus direkter Nähe beobachten, wie sich die künftigen Gymnasiasten anderen gegenüber verhielten, wie sie sich gaben, sich bewegten; ich sah ihre Mimik, hörte ihren Tonfall. Gleichzeitig nahm ich wahr, wie das nun offenbar gewordene nicht-gut-genug-Sein der anderen Schüler diese ebenfalls veränderte. Manche wurden kleinlaut und schimpften sich selbst blöde. Andere zeigten sich gleichgültig, so als würde ihnen das alles nichts ausmachen. Wieder andere suchten ihren Misserfolg, ihre als Herabwürdigung empfundene Herabstufung, auf die eine oder andere Weise zu kompensieren.
Mein Fazit aus all diesen Jahren und Beobachtungen ist, dass beide, Gewinner und Verlierer, an ihrer Psyche Schaden nehmen. Auf den ersten Blick ist man vielleicht geneigt, nur die Kränkung des Verlierers zu sehen, seine Abwertung zu einem zweit- oder drittklassigen Mitglied der Gesellschaft. Aber der psychische Schaden, den der Gewinner davonträgt, ist womöglich noch größer. Ob sich nun der Verlierer einredet: „Ich kann nichts; ich bin ein Versager“, oder der Gewinner überzeugt ist: „Ich kann alles; ich bin großartig“ – beide sind in ihrem Glaubenssatz gefangen. Ihre Identifikation mit einer vorgefertigten gesellschaftlichen Rolle verhindert, dass sie mit dem, was man ihre wahre Natur nennen könnte, in Berührung kommen.

Natürlich gibt es zwischen den Menschen allerlei Unterschiede. Die einen sind für dieses begabt, die anderen für jenes. Aber wir wissen auch, dass die Verteilung der Begabungen keineswegs schön ausgeglichen ist. Denn manche sind vielseitig begabt und scheinen für alles ein Händchen zu haben. Andere dagegen können kaum eine Begabung vorweisen und müssen sich alles mühsam erarbeiten, ohne es je zu Glanzleistungen zu bringen. Nicht unbedingt parallel dazu gibt es einerseits Schüler mit reichen Eltern und andererseits welche, deren Eltern am Rande des Existenzminimums leben. Und schaut man nur auf die Physis, gibt es ebenfalls deutliche Gegensätze. Im Sportunterricht sieht man Schüler mit einem athletischen Körperbau, die immer vorne dran sind, die Siegertypen, während andere von gedrungener Statur sind, zu Übergewicht neigen und kaum den Mindestanforderungen genügen können. Zwar ist es möglich und auch wünschenswert, manche dieser Unterschiede, wie etwa die soziale Ungleichheit, zu verringern. Aber die meisten können am Ende doch nur wenig verändert werden. Unsere persönliche Andersartigkeit müsste für uns indessen kein Problem sein. Schließlich ist jeder Mensch eine einzigartige Schöpfung. Aber sie wird zu einem Problem, sobald wir anfangen, uns selbst mit anderen zu vergleichen oder, was gerade in den Schulen ständig passiert, wenn wir, ohne es zu wollen, mit anderen verglichen werden.
Die Lehrer bewerten die Leistungen ihrer Schüler, ob nun mit Noten oder anderswie. Diese Bewertungen beruhen auf Vergleich. Wer im Klassenvergleich durchschnittlich leistet, bekommt eine Drei, wer überdurchschnittlich leistet, eine Eins, und all die Bedauernswerten, die mit ihren Leistungen unter dem Klassendurchschnitt liegen, sehen sich mit einer Fünf oder Sechs abgewertet. Bei den Schülern weckt diese Praxis mancherlei unerwünschte Regung wie Überheblichkeit, Ehrgeiz, Neid, Feindseligkeit, Apathie oder Resignation. Sie sehen sich von außen bewertet, gemessen an anderen, während doch eigentlich der einzig gültige Maßstab dafür nur in ihnen selbst liegt. Es wurde in den vergangenen Jahren viel von einem Rückgang der Leistungsfähigkeit unserer Schüler gesprochen. Ob es diesen Leistungsabfall tatsächlich gibt oder sich nur die Testverfahren geändert haben, sei dahingestellt. Unabhängig davon muss aber festgestellt werden, dass unsere Schulen heute kaum einen Beitrag dazu leisten, die Schüler mit ihrem inhärenten Eigenwert in Berührung zu bringen.
Wir sind es gewöhnt, dass unser Wert von außen definiert wird. Nützlichkeit und Produktivität sind dabei die entscheidenden Kriterien. Ein Herzchirurg ist demnach wertvoller als eine Kassiererin im Supermarkt. Der Arzt kann ein arroganter Widerling sein, die Kassiererin die Freundlichkeit in Person, warmherzig und zugewandt – aber das gesellschaftliche Bewertungssystem hält unvermindert am Statusunterschied fest. Es ist insofern tatsächlich unmenschlich. In der unumschränkten Herrschaft des Statusgedankens, sowohl bei den Gewinnern als auch bei den Verlierern, sehe ich die Wurzel der heute so viel beklagten Spaltung unserer Gesellschaft. Natürlich nehme ich den zerstörerischen Einfluss von Geld und Macht wahr, aber die Reduktion des Menschen auf seine wirtschaftliche Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachte ich als das für die gesellschaftlichen Zerwürfnisse verantwortliche Grundübel.

Diese Aufteilung der Menschen in Gewinner und Verlierer können wir nur von innen heraus überwinden, durch eine Rückbesinnung auf unseren eigenen unvergleichlichen Wert. Das heißt, wir müssen zunächst selbst mit dem Vergleichen aufhören. Ich meine nicht nur das ständige Vergleichen mit dem Aussehen oder den sportlichen, musikalischen oder sonstigen Leistungen anderer, das inzwischen zu einem weltweiten Geschäft mit Idolen geführt hat. Es geht ebenso wenig bloß um Besitztümer und Lebensstandard, teure Autos, ferne Urlaubsreisen und all diese Dinge. Schauen wir genauer hin, erkennen wir, dass wir uns auch in psychologischer oder gar spiritueller Hinsicht mit anderen vergleichen. Vielleicht bewundern wir sie, weil sie immer die Ruhe bewahren, weil sie genügsam, diszipliniert oder mutig sind, weil sie viel wissen oder sich schön ausdrücken können. Dann ist es wichtig zu beobachten, welche Reaktionen mit dieser Bewunderung einhergehen. Können wir uns uneingeschränkt an der Vielfalt der Menschen freuen oder meldet sich doch eher Neid, Missgunst, Gier. Machen wir uns selbst Vorwürfe, setzten wir uns unter Druck? Wird unser Ehrgeiz gestachelt und hören wir uns sagen: „Das solltest du auch können“ oder gar: „Du solltest besser sein.“?
Wir haben einen inneren Wert, der niemals mit den Maßstäben dieser Welt gemessen werden kann. Ihn wertzuschätzen bedeutet, den Karrieregedanken zu verwerfen, das Bestreben, so zu werden wie andere, Ansehen und Status zu erlangen. Der innere Wert bemisst sich nicht danach, wie viel Erfolg wir haben. Man kann seinen Eigenwert leben und zugleich in der Welt ein Nobody sein, auf keiner Bühne in Erscheinung treten. Wer viele Follower hat, müsste dagegen eher prüfen, ob er seinem inneren Wert noch treu ist oder sich bereits durch Lob, Schmeichelei und Profit von seinem Weg hat abbringen lassen. Wir sollten daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass es darum ginge, sich selbst als Sonderling zu stilisieren, daraus ein Markenzeichen zu machen. Das wäre doch bloß ein Spiel, eine eitle und letztlich unwürdige Selbstdarstellung.
Tatsächlich kommt uns Würde in dem Maße zu, wie es uns gelingt, unserem inneren Wert treu zu bleiben. So wie unsere Gesellschaft heute ist, braucht es dazu Mut. Denn die Gesellschaft belohnt Anpassung. Wer bereit ist, ihre Spielregeln zu akzeptieren, und sich fleißig bemüht, ihren unverrückbaren Maßstäben gerecht zu werden, erhält Zuspruch, sieht sich von vielen Menschen umgeben, die ihn in seiner Intention bestärken, die sich als Freunde anbieten, im Grunde aber eher Geschäftspartner sind. Kurzum: Man gehört dazu; man ist wer. Auf all das zu verzichten, sich davon zu lösen – nicht lautstark und theatralisch, sondern innerlich – bedarf einer Stärke, die letztlich nur aus der Liebe zum eigenen Wert hervorgehen kann.
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