Mitschwingende Vorvergangenheit
Was ist eigentlich unsere Vorgeschichte? Wir wissen in etwa, was unter dem Begriff Geschichte verstanden wird. Da geht es um Ereignisse, die in vergangener Zeit geschehen sind, ganz gleich, ob es gestern oder vor hundert Jahren war. Nun könnte man die Vorgeschichte als etwas verstehen, was sich vor dieser Geschichte ereignet hat – ähnlich wie es in der deutschen Grammatik zur Vergangenheit (Präteritum) eine Vorvergangenheit (Plusquamperfekt) gibt. Üblicherweise wird diese Zeitform so verstanden, dass das Vorvergangene klärt, wie das Vergangene bedingt ist. Ein Beispiel dafür ist die folgende Aussage: „Weil ich nahe der deutschen Grenze aufgewachsen war, konnte ich als Niederländer später relativ leicht die deutsche Sprache erlernen.“ So gesehen wäre die Vorgeschichte also bloß eine frühere Geschichte, ein vorgelagertes Glied in der endlosen Kausalkette der Ereignisse.
Historiker verstehen unter Vorgeschichte den unüberschaubar großen Zeitraum menschlicher Entwicklung, der vor der geschichtlichen Überlieferung liegt, wobei sie diese Überlieferung mit der Sprache, genauer gesagt mit schriftlichen Äußerungen in Zusammenhang bringen. Die Geschichte ist demnach das, was sich in einer festen Form niedergeschlagen hat, während sich die Vorgeschichte dieser Festlegung entzieht. Schriftliche Dokumente legen Zeugnis darüber ab, was einst geschehen ist, dies allerdings aus einer subjektiven Perspektive. Eine objektive Wahrheit können sie nicht vermitteln. Das erklärt auch, weshalb es überhaupt möglich ist, dass sich Historiker auf der Grundlage ihrer Dokumente über den Hergang des Vergangenen streiten. Eine objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht. Sie ist nicht möglich. Was wir als Geschichte kennen, sei es aus Büchern oder Zeitdokumenten, sei es als erfahrene Lebensgeschichte ist die Erscheinungsform einer subjektiven Zeit.
In der Geschichte sehen wir das Wirken der Naturgesetze, insbesondere die ursächliche Verknüpfung von Ereignissen. Es gibt ein Früher und Später, wobei im Vorherigen die Ursache für alles Nachherige zu suchen ist. Diese Entwicklung ist ihrer Natur nach unendlich. Da jedes Ereignis durch frühere Ereignisse bedingt ist, gibt es im Strom der Geschichte keine Freiheit. Solange wir in der subjektiven Zeit erfahrener Geschichte stehen, können wir nicht frei wollen und unser Leben bleibt sinnlos. Wir kommen aus dem Nichts und gehen ins Nichts. Und auch wenn die heutigen Ereignisse in der Welt aus der Vergangenheit heraus verständlich gemacht werden können, so bleiben sie doch eine sinnlose Verkettung von Aufbau und Untergang, Gewinn und Verlust, Erholung und Erschöpfung.
Mit Vorgeschichte ist also kein Erfahrungsraum vor der überlieferten Geschichte gemeint. Vielmehr bezeichnet sie einen Erlebnisraum vor der Zeit. Mit der Vorgeschichte erleben wir unser objektives Sein als Sinn unseres subjektiven Werdens. Die Vorgeschichte entwickelt sich nicht; sie entfaltet sich in dem Maße, wie wir ihrer bewusst werden. Wir können uns der Vorgeschichte aber nicht im Verlauf der subjektiven Zeit bewusst werden. Erst in dem Moment, da wir aus dem endlosen Strom dieser geschichtlichen Zeit auftauchen, offenbart sich uns unsere Vorgeschichte als Weg der Seele durch die objektive Zeit. Während es zur Wahrnehmung subjektiver Zeit des Gedächtnisses bedarf, entsteht die objektive Zeit in Momenten der Seinserinnerung. Wir können also mit anderen Worten nur im Jetzt des bewusst erlebten Momentes auf unsere Vorgeschichte aufmerksam sein.
Von der Geburt bis zum Tod haben wir ein Dasein in der Zeit. Nur solange wir in einem physischen Körper leben, erfahren wir die geschichtliche Zeit, die eben aufgrund dieser körperlichen Erfahrung subjektiv ist. Daraus folgt, dass sich in Momenten des Seins, in denen sich uns Vorgeschichte in Erinnerung bringt, Vorgeburtliches offenbart. Wir können es aber mit dem gleichen Recht auch als Nachtodliches bezeichnen, denn es handelt sich bei dieser Offenbarung nicht um etwas, was zeitlich nacheinander auftritt, sondern zeitübergreifend nebeneinander da ist. Damit ist die Vorgeschichte aus der Sicht des irdischen Daseins etwas Rätselhaftes. Sie ist überpersönlich, weil sie über unsere zeitlich bedingte Person hinausweist, und zugleich wirft sie ein erhellendes Licht auf unsere momentane Erscheinungsform.
Um das zu verdeutlichen, komme ich auf das eingangs erwähnte Beispiel zurück. Ich hatte darin mein leichtes Erlernen der deutschen Sprache mit der Nähe meines Geburtsortes zur deutschen Grenze erklärt. Damit brachte ich ein Kausaldenken zum Ausdruck, das die Vorgeschichte als ein früher Ereignetes in den Verlauf der gewöhnlichen Geschichte einreiht. Meistens geben wir uns mit solchen Erklärungen zufrieden, obwohl sie nur auf Zufälle verweisen und einen Sinn vermissen lassen. Nun fühle ich aber in mir die innige Beziehung zu dieser Sprache, die sich mit einer geografischen Nähe nicht erklären lässt. Diese Beziehung kann nur in der Vorgeschichte wurzeln. Vor ihrem Hintergrund müsste meine Aussage etwa folgendermaßen lauten: „Weil ich in der deutschen Sprache daheim gewesen war, konnte ich sie auch als geborener Niederländer leicht erlernen.“ Demnach bin ich aus einer fremden in die deutsche Sprache nach Hause gekommen. Über die biografische Bedeutung dieser Reise ließe sich manches sagen. Ich begnüge mich hier mit folgender Feststellung: Das Erlernen der deutschen Sprache erst als junger Erwachsener hat dazu geführt, dass ich in dieser Sprache bis heute bewusster spreche, denke und schreibe als viele meiner Freunde, die von klein auf mit ihr aufgewachsen sind.
Die Vorgeschichte bricht senkrecht in unsere waagerecht verlaufende Lebensgeschichte ein. Wo das geschieht, erleben wir den Sinn unseres Daseins in seiner Entsprechung zum Weg der Seele. In diesem Sinn leuchtet das auf, was wir „Ich“ nennen. Wir finden auf die Frage „Wer bin ich?“ keine Antwort in der Zeit, denn das Sein des Ich ist in der subjektiven Zeit irdischen Daseins nicht erlebbar. Dieses Sein kann nicht mit der Zeit erreicht werden, etwa so wie wir eine Reiseziel oder eine Stufe auf der Karriereleiter erreichen. Wir können in der Zeit alles Mögliche erlangen, gewiss auch außergewöhnliche Fähigkeiten, doch dem Sein des Ich kommen wir damit nicht näher. Das Ich entwickelt sich nicht, es ist. Die Vorgeschichte ist immer da, wie der objektive Grundton, aus dem die Melodie unseres subjektiven Daseins hervorgeht. Sie schwingt mit unserem Dasein mit. Unsere Bestimmung beruht auf der Übereinstimmung mit dem, was wir innerlich als Sinn vernehmen. Dann können wir aus dem Sein der Seele sprechen, ohne misstönend den Sinn zu verfehlen.
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