Begegnung ohne Angst und Gier
Ehrlich sind wir in Bezug auf andere. Denn ehrlich zu sein, heißt, dem anderen weder etwas wegzunehmen noch ihn anzulügen. Der Ehrliche achtet die Gesetze und sittliche Normen. Sie sind für die öffentliche Ordnung und damit für den gesellschaftlichen Frieden unerlässlich. Wer die moralischen Konventionen verinnerlicht hat, handelt und verhält sich anständig. Ihm ist Ehrlichkeit zur zweiten Natur geworden. Das heißt, dass er fast schon instinktiv, ohne viel nachzudenken, ehrlich ist. Fragte man ihn nach seinen Eigenschaften, so würde er die Ehrlichkeit wahrscheinlich gar nicht erst erwähnen. Der Volksmund nennt ihn eine „ehrliche Haut“. Entscheidend ist, dass er seine Ehrlichkeit nicht zeigen muss.
Wer dagegen seine Ehrlichkeit demonstriert, spielt seinen Mitmenschen etwas vor, weil er seine eigennützigen Absichten vor ihnen zu verbergen sucht. Er fürchtet, dass die anderen seine ihn beherrschende Gier erkennen und ihm folglich mit Misstrauen oder Ablehnung begegnen. Ansatzweise ist er sich also seiner Selbstsucht bewusst als etwas, was es vor anderen zu verbergen gilt. Solange wir Ehrlichkeit demonstrieren und Anständigkeit vorgaukeln, mangelt es uns an Aufrichtigkeit. Aufrichtig können wir nur sein, wenn wir nicht länger gezwungen sind, unsere Natur vor anderen zu verbergen. Gewöhnlich halten wir unsere Natur verborgen, weil wir uns ihrer schämen. Diese Scham ist uns häufig wenig oder gar nicht bewusst, macht sich, wenn überhaupt, als ein dumpfes Gefühls des Unbehagens bemerkbar. Tief im Herzen wissen wir wohl, dass wir menschlich hinter dem zurückbleiben, was wir sein könnten und sollten. In unserem Versuch, dieses beunruhigende Gefühl irgendwie zu beherrschen, rationalisieren wir unsere Scham, indem wir sie zu Schuld umdeuten. Rationalisierte Scham führt dazu, dass wir uns entweder ständig selbst schuldig sprechen oder uns genauso einseitig von jeglicher Schuld freisprechen.
Gier ist etwas, was jeder Mensch kennt; frei davon ist wohl kaum einer. Und wer schämt sich nicht innerlich seiner Gier? Gierig schnappen wir nach Luft, sobald wir nur ein oder zwei Minuten lang den Atem angehalten haben. Gierig verschlingen unsere Augen die Fülle eines verlockenden Buffets und angesichts eines großen Andrangs von gleichsam Hungrigen schöpfen wir mehr auf unseren Teller, als wir unter anderen Umständen tun würden. Es scheint sich um eine Ausdrucksweise des Körpers zu handeln, eine Art Urhunger, mit der allerdings auch eine Urangst einhergeht.1 In dem Maße, wie wir uns mit unserem Habenwollen identifizieren, sehen wir andere als Rivalen, die uns etwas streitig machen oder wegnehmen könnten. Dann werden wir berechnend und suchen taktierend die Konkurrenten zu überlisten, indem wir uns betont ehrlich und vertrauenswürdig geben. So ist gerade die Demonstration von Ehrlichkeit ein Zeichen von Unaufrichtigkeit.
Ehrlich zu sich selbst zu sein, ist der erste Schritt zur Aufrichtigkeit. Dem muss aber ein weiterer folgen, denn wer nur ehrlich zu sich selbst ist, kann sich trotzdem als jemanden betrachten, der im Recht ist und mehr als andere für sich beanspruchen darf. Dann wirft er sich damit in die Brust, dass ihm als ein Besonderer ein Haben und Dürfen zusteht, das anderen nicht in diesem Maße zusteht. Notwendig ist es aber vielmehr, zu erkennen, dass ich als natürliche Person nichts Besonderes bin. Meine Wünsche sind in der Tat die Wünsche aller und insofern gewöhnlich, trivial. Ich nehme mit meinem Verlangen keine Sonderstellung ein. Im Gegenteil! Jeder andere erwartet mit dem gleichen Recht, dass seine Bedürfnisse erfüllt werden. Das nun, was mich davon abhält, meine Begierden und Rechte über die der anderen zu stellen, ist das Gewissen.
Wenn das Gewissen erwacht, lernen wir, die beschämende Tatsache unserer Schwäche demütig zu akzeptieren, während es uns zugleich anspornt, sie zu überwinden. Dieses Bemühen, über unsere Schwächen hinauszuwachsen, ist kein ehrgeiziges und selbstverliebtes Streben, sondern eine Absicht im Sinne des gemeinsamen Friedens, der nur in dem Maße entstehen kann, als unsere Gier gemäßigt wird. Erst wenn sich das Gewissen in uns regt, sehen wir uns nicht länger genötigt, uns selbst oder andere schuldig zu sprechen. Das Gewissen verleiht eine größere Ernsthaftigkeit und wir fangen an, zurückhaltender zu urteilen. Wir ahnen nun, dass wir gar nicht der sind, für den wir uns so viele Jahre lang gehalten haben, und erstaunt stellen wir fest, wie viel Überheblichkeit nicht nur darin liegt, anderen, sondern auch uns selbst Schuld aufzubürden.
Der Ehrliche kann gewissenlos sein. Dann ist er ein Zyniker, der nicht davor zurückschreckt, die Gefühle anderer mit seiner Ehrlichkeit zu verletzen. Er ist im Grunde ein Mensch, der sich selbst verachtet, der seine natürlichen Begierden und Egoismen, die ihn in Abhängigkeit halten, verflucht und eine bittere Schadenfreude empfindet, andere auf ihre Schwächen hinzuweisen. Ihn quälen Schuldgefühle, die er dadurch zu lindern sucht, dass er andere mit ihrem vermeintlichen Schuldigsein konfrontiert. Dabei ist er überzeugt, die Wahrheit zu sagen, und bemerkt nicht, dass er sich immer wieder selbst schuldig spricht. Da er keine Demut hat, kann er weder sich selbst noch andere achten. Bescheidenheit ist das rechte Verhältnis zum Selbst. Sie schafft eine innere Harmonie und verleiht uns eine Würde, die frei ist von jedem Gehabe oder Getue, eine natürliche Würde ohne Eitelkeit oder Rechthaberei.
Das Gewissen ermahnt uns, den Wunsch des anderen, glücklich zu sein, nicht zu vergessen. Wir können Glück haben, etwa im Spiel oder in geschäftlichen Angelegenheiten, aber glücklich können wir nur sein. Während unser Haben häufig mit einem Nichthaben des anderen einhergeht, kennt das Sein diese Ausschließlichkeit nicht. Das gierige Für-sich-Habenwollen entsteht vor dem Hintergrund eines gefühlten und gefürchteten Mangels. Unser Sein aber nimmt niemandem etwas weg. Im Gegenteil, es teilt sich mit; wir können es nicht für uns behalten. Wer gewissenhaft wünscht, dass der andere glücklich ist, kann aufrichtig wollen, denn er hat nichts Beschämendes zu verbergen.
- Die beiden Begriffe „Urhunger“ und „Urangst“ stammen vom Philosophen Hermann Graf Keyserling, dem Vater meines langjährigen Lehrers und Förderers Manfred Keyserling. ↩︎
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