Reinkarnationen

Unsere Projektionen in die geschichtliche Zeit

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Jeder Mensch ist einzigartig. Das gilt schon für sein Äußerliches, seinen Fingerabdruck etwa oder seine DNA, also das, was als Erbinformation in seinem Körper vorhanden ist. Obwohl es Milliarden Menschen gibt, finden sich keine zwei völlig identische. Sogar eineiige Zwillinge sind einander nicht ganz gleich. Wenn wir auf das Innere schauen, werden die Unterschiede noch offensichtlicher. Zwar kann man bei vielen Menschen ähnliche Neigungen und Abneigungen, auch ähnliche Werte und Ansichten erkennen, aber jeder einzelne weist hier doch eine eigene Melange auf. Erst recht treten uns individuelle Unterschiede entgegen, wenn wir das Schicksal eines jeden in Betracht ziehen. Offenbar geht jeder seinen eigenen Weg durchs Leben. Keiner kann einen anderen kopieren oder mit ihm tauschen. Nicht nur ist jeder Mensch einzigartig, er ist auch einmalig. So wie er uns jetzt erscheint, wird er uns nie wieder erscheinen.

Das Erscheinende ist immer Ausdruck des Verborgenen. Jede Schöpfung geht aus einer Quelle hervor. Die Quelle ist ewig, das heißt, sie hat keine Ausdehnung in der Zeit. Und deshalb können wir sie uns nicht vorstellen. Erst mit der Schöpfung entsteht das, was wir als Zeit erfahren. So ist auch unser Körper mit all seinen Lebensprozessen eine in der Zeit erscheinende Schöpfung. Ohne Körper haben wir kein Dasein in der Zeit. Die ewige Quelle ist sein Ursprung. Diesen Ursprung finden wir nicht in der Zeit, ganz gleich wie weit wir zurückgehen. Was wir in der Zeit finden, ist eine endlose Kette von Ursachen. Diese Kette mag einen Kreis und der Kreis eine Spirale bilden, doch sie verliert sich in der Zeit, deren Endlosigkeit unsere Vorstellung verwirrt.

Die Quelle ist eine Ganzheit jenseits unserer zeitgebundenen Vorstellung. Sie kennt kein Werden, das heißt kein Zu- oder Abnehmen, kein Mehr oder Weniger, kein Vorher oder Nachher. Eine Bezeichnung für die Quelle, aus der wir wie ein Strom fortlaufend hervorgehen, ist das Himmelreich-in-uns. Wir könnten auch von Gott-in-uns oder unserer immanenten Göttlichkeit sprechen. Dieses Himmelreich ist wie ein geistiges All; es enthält alles das, was wir sind. Die zeitliche Dimension unseres Seins, das heißt unser Werden in der Zeit, ist ein Teil davon. Aufgehoben in diesem Himmelreich ist also auch alles, was wir einst waren, jetzt sind und künftig sein werden.

Im körperlichen Dasein haben wir ein räumliches Nebeneinander und ein zeitliches Nacheinander. Es ist uns nicht möglich, eine gestrige Begegnung und ein heutiges Ereignis gleichzeitig nebeneinander zu sehen, etwa so, wie wir die Blumentöpfe auf unserem Fensterbrett aufgereiht stehen sehen. Im Himmelreich ist das anders. Dort existiert so etwas, wie ein zeitliches Nebeneinander. Es ist alles da. Manches erscheint näher, anderes ferner, aber alles offenbart sich unserem Blick. Tatsächlich ist jeder prophetische Blick Einblick in das Himmelreich. Wir erleben etwas Ähnliches in der lebhaften Erinnerung. Plötzlich ist uns ein Ereignis präsent, das im zeitlichen Sinne Jahre zurückliegt. Es steht uns klar vor Augen, wir fühlen seine Gegenwart, und nun, in der Zusammenschau mit unserer aktuellen Situation, offenbart sich uns neuer Sinn.

Heute benutzen wir gerne Termini technici, weil wir uns dem Unvorstellbaren intellektuell nähern und unser Verstand darauf drängt, es zu erklären. Wir sprechen dann von Bewusstseinsstufen oder -feldern, von anderen Dimensionen oder von einer sogenannten Akasha Chronik. Mit derlei Begriffen suggerieren wir uns selbst, dass es um Zustände geht, die wir begreifen und auf technischem Wege ergreifen können. Eine eher poetische Metapher wie „Himmelreich“ erscheint uns dagegen vielleicht vorwissenschaftlich und unmodern. Aber weil alte Sprachbilder wie „Quelle“ oder „Himmelreich“ reich und vielschichtig sind, sprechen sie tiefere Schichten unseres Seins an. Das Intellektuelle, Rationale und scheinbar Verständliche indes bildet nur eine dünne, äußere Schicht.

Erklären und Begreifen ist natürlich nicht dasselbe wie Erleben. Jedes Erleben geschieht unmittelbar und erfasst uns als Ganzes. Wir schöpfen aus der Quelle, laben uns an der Quelle. So erleben wir den Moment im Zustand seines Entstehens, mit anderen Worten als schöpferischen Akt. Innen und Außen scheinen einander zu spiegeln, zeigen sich uns wie zwei Qualitäten eines einzigen Seins. Kosmos außen, Kosmos innen: Himmelreich. Nähern wir uns der Quelle, dem Ursprung der Zeit, öffnen wir uns für Erinnerungen, die auch über die Grenze unseres zeitgebundenen Daseins hinausgehen können. Erinnerung schöpft aus der Quelle, nicht aus dem Gedächtnis. Sie ist ein Innewerden des Seins. Wir gehen nicht zurück in der Zeit, sondern erleben die Zeit in ihrer räumlichen Qualität.

Mit Blick auf eine bestimmte Inkarnation, das heißt, ein Dasein in einer anderen geschichtlichen Zeit, zu sagen: „Ich war einmal der oder die …“, ist leicht irreführend. Das, was ich jetzt bin, ist doch einzigartig und einmalig. Zutreffender wäre es zu sagen, dass dieses andere Dasein aus einer Quelle geschöpft ist, aus der auch das, was ich jetzt bin, geschöpft wird. Wir wären demnach wie Blätter am selben Baum, allerdings mit einer je eigenen Individualität und Bestimmung. Wir mögen uns geschwisterlich verbunden fühlen, sind aber nicht ein und dasselbe. Kein Blatt hat es nötig, sich mit der Größe oder Schönheit eines anderen zu schmücken. Es freut sich am eigenen Dasein genauso wie am Dasein aller anderen.

Vor einigen Jahren traf ich einen Mann, der von sich glaubte, die Reinkarnation Maria Magdalenas zu sein. Er hatte in Südfrankreich eine dieser Maria geweihte Kirche besucht und dort spontan weinen müssen. Aus dieser Erschütterung heraus war er offenbar zu dem Schluss gekommen, dass die Magdalena und er ein und dasselbe Wesen seien. Nun betrachtete er sich stolz als Spezialisten für jene berühmte Gefährtin Jesu, einen Eingeweihten mit Wissen aus erster Hand, der besser Bescheid wusste als jeder andere. Ich war von seinem Glaubensbekenntnis peinlich berührt, denn ich spürte, wie er in seiner Vorstellung gefangen war. Sein Glaube hatte ihn nicht frei, sondern eher engstirnig und rechthaberisch gemacht.

Statt uns mit einer historischen Persönlichkeit zu identifizieren, sollten wir uns auf unsere Quelle rückbesinnen. Im Innewerden unseres Seins weitet sich unser Selbstverständnis und wir dürfen auf Selbsterkenntnis hoffen. Wenn wir ahnen, dass bestimmte Ahnen uns nahe sind, können wir daraus lernen, welche Motive uns in unserem Dasein leiten. Wir sind vielleicht eine einzelne Stimme in einem vielstimmigen Choral, aber das Lied ist zugleich als Ganzes in uns. Wir bleiben unserer Stimme wie unserer Bestimmung treu und erleben unser Dasein gehalten in der Harmonie einer Größe und Schönheit, die jenseits unserer Vorstellung ist.

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