Können wir uns auf den Tod vorbereiten?

Was bleibt, wenn das Bekannte aufhört, ist jenseits aller Vorstellung

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Je älter wir werden, umso mehr rückt die Gewissheit unserer Sterblichkeit in den Fokus unserer Wahrnehmung. In der Regel sterben zunächst die Großeltern, dann die Eltern, irgendwann vielleicht auch ältere Geschwister. Und natürlich fragen wir uns im Laufe dieser Entwicklung, was uns mit dem Tod oder, sofern wir daran glauben, nach dem Tod erwartet. Es gibt mittlerweile zahlreiche Berichte von sogenannten Nahtoderfahrungen und sie stellen für viele den Beweis dar, dass es nach dem Tod tatsächlich irgendwie mit uns weitergeht. Wir sollten aber bedenken, dass es sich dabei um Schwellenerfahrungen handelt. Was geschieht, wenn wir die Schwelle tatsächlich überschreiten und unwiderruflich aus dem Leben geschieden sind, wissen wir nicht.

Nun mag man hier einwenden, dass uns doch verschiedene Beschreibungen jenes Weges, den der Mensch nach dem Tode beschreite, vorliegen. Es gibt etwa das ägyptische Totenbuch, die tibetische Bardo-Lehre oder die geisteswissenschaftlichen Vorträge und Schriften Rudolf Steiners. Auf der Grundlage dieser Überlieferungen können wir uns gewiss eine Vorstellung machen von dem, was uns erwartet, wenn wir aus dem irdischen Leben scheiden. Aber wissen wir damit, was auf uns zukommen wird? Im günstigsten Fall haben wir aufgrund unserer Lektüre so etwas wie eine sehr ungefähre Wegbeschreibung oder eine Landkarte in größerem Maßstab. Aber wir kennen schon aus unseren weltlichen Wanderungen die Erfahrung, dass die Wirklichkeit des Weges ganz anders ist als das, was uns die Landkarte zeigt.

Unsere Vorstellungen, das sollten wir bedenken, sind körpergebunden. Sie entstehen auf der Grundlage unserer körperlichen Wahrnehmung. Wenn wir uns eine fliegende Schildkröte oder einen Baum mit blauen Blättern vorstellen, greifen wir auf Bilder aus unserem Gedächtnis zurück, die wir sodann lediglich neuartig kombinieren. Wir wissen etwa, wie eine Schildkröte und eine Flugbewegung am Himmel aussehen. Wir haben eine ungefähre Vorstellung vom Laub eines Baumes sowie von der Farbe Blau. Die einzelnen Komponenten unseres Fantasiebildes sind also der Sinneswahrnehmung entnommen. Uns auf diese Weise etwas vorzustellen, was wir nie mit unseren Augen gesehen haben, weder in echt noch auf einer Abbildung, ist bereits eine Herausforderung für unsere Einbildungskraft. Aber uns als Blinde vorzustellen, wie es wäre, zu sehen, würde unsere Möglichkeiten komplett übersteigen. Denn wie könnte jemand, der blind geboren ist, jemals eine Vorstellung von verschiedenen Farben und Farbnuancen entwickeln?

Darstellung des altägyptischen Gottes Anubis
Er galt den Gläubigen als Gott der Totenriten.

Das, was wir wissen, wenn wir Beschreibungen der Welt jenseits der Todesschwelle studieren, ist immer noch ein diesseitiges und damit sehr beschränktes Wissen. Wir übersetzen das, was wir dabei lesen oder erzählen hören, in Vorstellungen, die sich an irdische Erfahrungen anlehnen. Wir können gar nicht anders. Dieses Wissen wird, wie jedes Wissen, das wir im Laufe unseres Lebens erwerben, im Gedächtnis aufbewahrt. Die Fra-ge, die uns also beschäftigen sollte, ist die, was mit unserem Gedächtnis passiert, wenn wir gestorben sind. Was bleibt von dem, was sich dort angesammelt hat? Ich will nicht behaupten, dass unser Gedächtnis im Gehirn lokalisiert ist. Offensichtlich aber scheint doch, dass das physische Gehirn bei der Funktion des Gedächtnisses eine wichtige Aufgabe erfüllt. Und nach dem Tode steht uns dieses Gehirn natürlich nicht mehr zur Verfügung.

Wir können in der Frage nach dem Wert des Gedächtnisses zum Vergleich den Schlaf heranziehen, heißt es doch, dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes ist. Sobald wir eingeschlafen sind, scheinen wir unser Gedächtnis komplett verloren zu haben. Zwar arbeitet das Traumbewusstsein gelegentlich mit sogenannten Tagesresten, aber das geschieht oft so, dass es das vergangene Tagesgeschehen nicht physisch korrekt wiedergibt. Personen, Orte und Ereignisse erscheinen uns im Traum zumeist in verwandelter Form. Selten erleben wir eine geografisch, biografisch oder historisch genaue Wiedergabe dessen, was wir im Gedächtnis haben. Mir geht es im Traum oft so, dass ich innerlich ohne jeden Zweifel weiß, dass ich einem bestimmten Menschen begegne, obwohl dieser häufig ganz anders aussieht, als er dem im Gedächtnis gespeicherten Wissen nach aussehen müsste. Für das Sehen oder Erkennen des anderen scheint das Aussehen gar nicht entscheidend. Es ist, als ob ein anderes Organ als das Auge oder das übliche Fühlen unmittelbar das Wesen des anderen erfasst. Ich schließe daraus, dass wir mit dem, was wir im Gedächtnis haben, im Traumleben nicht weit kommen. Vielleicht ist unser Gedächtnis dort eher hinderlich, weil es sich an Äußerlichem, das heißt, an Vergänglichem orientiert.

Wissen, welches wir mit Hilfe unserer Sinnesorgane und unseres Verstandes erwerben, ist irdisch. Es ist nicht himmlisch. Damit sage ich nicht, dass es unmöglich wäre, zeitlebens himmlisches Wissen zu erlangen. Ich glaube aber, dass dazu alles Körperliche schweigen müsste, so dass sich dieses überirdische Wissen offenbaren, sich quasi in unser Gefäß ergießen könnte. Die Werkzeuge, die wir einsetzen, um unsere Erfahrungen zu verarbeiten, können uns dahin führen, dass wir ihre beschränkte Gültigkeit erkennen. Wir sehen dann die Grenze, über die sie uns nicht hinauszuführen vermögen. Dort angelangt, verstehen wir die Aussage, die dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben wird: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“

Gelingt es uns, mit diesem Nichtwissen zu leben, können wir qualitativ Neues lernen. Das gewöhnliche, im Gedächtnis angesammelte Wissen ist grundsätzlich ein Relikt der Vergangenheit. Ob wir einen Vortrag gerade eben oder vor zehn Jahren gehört haben, – alles, was wir davon im Gedächtnis aufbewahren, ist zwangsläufig Vergangenheitsbezogen. Dasselbe gilt für jede Erfahrung, die sich im Gedächtnis abgebildet hat. Diese Tatsache in ihrer ganzen Bedeutung zu erkennen, versetzt uns schlagartig in die Gegenwart des jetzigen Moments. Die Situation konfrontiert uns mit der Frage: Wer bin ich, wenn all dieses, was ich als körperbasiertes Wissen mit mir herumtrage, wegfällt? Wer bin ich hier und jetzt? In einem solchen Augenblick mögen wir eine Ahnung bekommen von dem, was bleibt, wenn der Körper mit seinen zahlreichen Empfindungen und Wahrnehmungen aufhört, zu sein.

Mit dem Tod findet jede Vergangenheit ihr Ende. Er zwingt uns in die Gegenwart hinein. Vor seiner Präsenz muss der Verstand verstummen. In der Begegnung mit dem Tod verblasst alles das, was wir im Laufe von Jahrzehnten gelesen, gehört und uns gemerkt haben. Sämtliche Vorstellungen von dem, was uns nach dem Tode erwartet, zerfallen zu Staub wie brüchiges Pergament, auf dem wir einst unser Wissen festzuhalten versuchten. Wenn wir anfangen, mit dem Nichtwissen zu leben, laden wir den Tod in unser Leben ein. Das hat nichts mit Todessehnsucht zu tun, ist keineswegs das morbide Verlangen eines Verzweifelten. Im Gegenteil! In der Gegenwart des Todes wird sich nicht nur unser Leben fortlaufend erneuern, sondern auch unser Denken schöpferisch sein. Und was schöpferisch ist, stirbt nicht.

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