Massenpsychose

Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!1

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Für jeden, der die Geschehnisse in der Welt heute noch halbwegs objektiv zu beurteilen vermag, ist ersichtlich, wie viel Wahnsinn in diesen Ereignissen zum Ausdruck kommt. Was sich dem unparteiischen Blick offenbart, sind nicht einfach Fehlentscheidungen, Irrtümer oder Missverständnisse, sondern es ist Wahnsinn. Dieses objektive Urteil ist nicht etwa die Privatmeinung eines Pessimisten oder Misanthropen, sondern ein offen-sichtliche Tatsache, und diese gilt es schonungslos zur Kenntnis zu nehmen. Beispiele für den Wahnsinn gibt es zuhauf. Aus Angst vor einem Erkältungsvirus begegnen wir einander der Situation absolut unangemessen mit Hass, Hohn und Gewalt. Und anstatt unsere Gesundheit zu schützen, gefährden wir sie mit absurden, würde-losen und unnatürlichen Maßnahmen. Oder nehmen wir die Dynamik des Krieges und der Kriegspropaganda! Unter Auslassung von grundlegender Erfahrung und gesundem Menschenverstand werden einzelne Personen oder auch ganze Völker dämonisiert, das heißt entmenschlicht, so dass sie mit allen Mitteln bekämpft und vernichtet werden dürfen. Doch damit nicht genug! Freude am Leid und die Genugtuung über das Elend der anderen treten überall offen zutage. Weder Schamgefühle noch Gewissensimpulse sind erkennbar. Wir propagieren den Einsatz militärischer Gewalt in der Absicht, Frieden zu erlangen. Im Dienste hochfliegender Ideale sehen wir uns berechtigt, andere zu nötigen, zu bestrafen oder gar zu töten. Der Wahn ist grenzenlos.

Wenn wir von Wahnsinn sprechen, so meinen wir etwas völlig Irrationales. Da wir alle sehr rational erzogen wurden und uns selbst gern als vernünftige, analytisch und sachlich denkende Wesen betrachten, weisen wir das Urteil, irrational zu handeln, reflexhaft weit von uns. Insbesondere wir, die wir in der sogenannten westlichen Welt aufgewachsen sind, schätzen uns selbst als vom Intellekt gesteuerte Individuen ein. Unser Handeln, so meinen wir, beruhe auf sorgfältigen Abwägungen und bewussten Entscheidungen. Sollte dem nicht so sein, hieße das, keine Kontrolle über unser Tun zu haben. Diese Vorstellung empfinden wir naturgemäß bedrohlich, so dass wir auch unsere völlig unüberlegten und unlogischen Handlungen im Nachhinein mit rationalen Begründungen vor uns selbst und anderen rechtfertigen.

Nehmen wir an, ich habe, jemanden übervorteilt. Anstatt mir selbst einzugestehen, dass ich dabei von einer unvernünftigen und ungehörigen Gier nach Erfolg und Besitz oder gar von einer boshaften Freude an List und Betrug getrieben wurde, konstruiere ich eine mich beruhigende Erklärung. Ich könnte mir einreden, dass mein Vorteil rechtens sei und mir zustünde. Oder ich könnte die Theorie aufstellen, dass der andere die Erfahrung, von mir übervorteilt zu werden, für seine persönliche, moralische oder spirituelle Entwicklung unbedingt gebraucht habe. Ich hätte ihm also letztlich einen Freundesdienst erwiesen. Folglich bräuchte ich mir nichts vorzuwerfen; mein Gewissen wäre rein. Ich könnte natürlich auch einfach behaupten, der andere sei selbst schuld, dass er so blöd ist, sich von mir über den Tisch ziehen zu lassen. So oder ähnlich funktioniert die Selbstberuhigung. Für meine Behauptungen fände ich mit meiner dafür eigens geschulten Vernünftelei natürlich allerhand Begründungen, die scheinbar logisch und als solche nicht zu widerlegen wären.

Wir versuchen also unsere von egoistischen, unmoralischen und menschenunwürdigen Motiven geleiteten Handlungen einen rationalen Anstrich zu verleihen. Das gelingt mal mehr mal weniger gut. Manchmal wird uns zumindest ansatzweise bewusst, dass wir uns etwas vormachen. Es melden sich Gewissensbisse. Ob wir sie aushalten und zum Anlass nehmen können, uns selbst zu erforschen, hängt vom Grad unserer Aufrichtigkeit ab. Es geht dabei um eine innere Stärke, die es uns erlaubt, alleine zu stehen, standhaft zu bleiben. Fehlt sie, werden wir in Zeiten einer Massenpsychose vom Strom der großen Menge mitgerissen. Sind wir einmal einem kollektiven Wahnsinn anheimgefallen, neigen wir dazu, die Illusion unserer Selbstkontrolle dadurch abzusichern, dass wir den anderen, den Andersdenkenden oder Fremdländischen Irrationalität und böse Absichten unterstellen. Bedauerlicherweise geschieht das immer wieder.

Es ist ein Wahn, zu meinen, der andere sei grundlegend schlechter, dümmer oder unkultivierter als man selbst. Wer also gegen eine Massenpsychose gefeit sein möchte, muss lernen, im anderen sich selbst zu sehen, einen Menschen, der sich mitunter widersprüchlich verhält, von Sorgen und Ängsten geplagt, von Wünschen und Verlangen getrieben, der Gutes will und doch öfter mal das Gegenteil tut, der lieben möchte, aber sich selbst zu wichtig nimmt, der leidet und sich nach Erlösung sehnt. Diese ehrliche und nüchterne Bestandsaufnahme von persönlichen Schwächen und Stärken, von der Lage, in der man sich befindet, scheint sehr schwer zu sein. Wir sehen auch heute, dass viele Menschen eher bereit sind, andere abzuwerten, anzugreifen oder gar umzubringen, als sich selbst zu erforschen. Denn die ehrliche Selbstbetrachtung zeigt uns ein Bild, das wenig mit der grandiosen Selbstdarstellung des Ego gemein hat. Die Ernüchterung schmerzt. Deshalb wundert es nicht, dass so viele lieber Befehle empfangen und blind befolgen, als selbst zu denken.

Wer anfängt sich selbst zu erforschen, wird sich seiner selbst bewusst. Es ist irreführend, dass die Bezeichnung „selbstbewusst“ im alltäglichen Gebrauch einen Menschen charakterisiert, der von sich selbst überzeugt oder gar eingenommen ist, der forsch und selbstsicher auftritt, jemand also der, wie man sagt, gut für sich sorgen und sich in allen Lebenslagen durchsetzen kann. In meiner Zeit als Lehrer hat es mich immer irritiert, wenn Kollegen oder Eltern ein Kind, das eigentlich nur mit einer gewissen Dreistigkeit über andere bestimmen wollte, als „selbstbewusst“ beschrieben. Nach meinem Verständnis war es alles andere als das. Wer nämlich anfängt, sich selbst zu erforschen, verliert zunächst ein gutes Stück seiner bisherigen Sicherheit. So ergeht es unweigerlich jedem, der merkt, wie raffiniert bisweilen die Mechanismen der Selbsttäuschung sind. Er ist sich nicht mehr so sicher, im Recht zu sein. Er sieht die Grundlage schwinden, die es ihm bislang erlaubte, sich ohne Weiteres über andere aufzuregen. Er hält sich weder für gut noch für schlecht, sieht aber, wie stark er von äußeren und inneren Impulsen beeinflusst werden kann.

Wer sich selbst täuscht, kann auch leicht von anderen getäuscht werden. Es hilft uns nicht, diejenigen, die uns irreführen wollen, zu verteufeln und zu bekämpfen. Wenn es um Politik und Macht geht, mag es einen Wert haben, Intrigen und Verschwörungen aufzudecken. Aber wir sehen, dass dadurch neue Spaltungen und Feindseligkeiten entstehen. Auch von protestierenden Demonstranten kann eine Sogwirkung ausgehen, die uns mitreißt und auf einer Empörungswelle davonträgt. „Wir werden belogen“, erregt sich die Masse, und keiner will noch wissen, wo er sich selbst belügt. Der Krieg hat viele Gesichter und sie alle sind verzerrt.

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  1. Lukas 23,34 ↩︎