Beten

Still und innerlich

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Wir leben in unruhigen Zeiten. Sowohl politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich als auch moralisch scheint die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Die vielfältigen Krisen erscheinen uns bedrohlich und wir können uns kaum vorstellen, wie all diese Probleme jemals überwunden werden sollten. Die Lage mutet uns bisweilen so ausweglos an, dass wir innerlich empfinden, nur noch Beten könne uns helfen. Ist das nicht bloß ein Ausruf der Verzweiflung, sondern eine ernste Erkenntnis, so stellt sich die Frage, was Beten eigentlich heißt. Im Folgenden möchte ich mich dieser Frage möglichst offen nähern.

Wenn von Beten die Rede ist, denken wir vielleicht rein assoziativ an bestimmte Gebetstexte, die wir irgendwann kennengelernt haben, in unserem christlich geprägten Kulturraum wahrscheinlich das Vaterunser, das Ave-Maria oder auch das aus der orthodoxen Kirche stammende Jesus-Gebet. Sind wir eher östlich orientiert – „orientiert“ also im wörtlichen Sinne – kommen uns möglicherweise indische Mantras oder poetische Verse von Sufi Mystikern in den Sinn. Aber ganz gleich, wohin wir schauen, scheint das Beten überall darin zu bestehen, einen bestimmten Wortlaut zu wiederholen. Es gibt in Bezug auf die Gebetspraxis je nach Tradition unterschiedliche Vorgaben oder Vorschriften. So sollen Hindus spezielle Mantras 21- oder 108-mal zusammen singen. Dagegen betet der Gläubige in der jüdischen Tradition grundsätzlich allein, für sich, und spricht dabei so schnell, dass er, wie es heißt, nicht ins Nachdenken kommen kann. Christen beten traditionell knieend mit gefalteten Händen, während Muslime ihre Handflächen in einer empfangenden Geste nach oben drehen. Es gibt die Weisung, morgens und abends, fünfmal am Tag oder auch immerzu Gebete zu sprechen, entweder laut, halblaut oder leise murmelnd.

Da das Beten mit so vielen genauen Vorgaben verbunden ist, entsteht in uns leicht die Sorge, wir könnten dabei etwas falsch machen, die falschen Worte sagen oder sie nicht richtig betonen, die Reihenfolge durcheinander bringen oder bestimmte rituelle Handlungen versäumen, wie etwa die vorbereitende Waschung von Händen, Füßen und Gesicht, die Bedeckung unseres Hauptes, das Zünden von Kerzen oder Weihrauch, das Verrichten bestimmter Verbeugungen und so weiter. Uns wird suggeriert, dass unser Gebet nicht beim Adressaten ankommt, nicht erhört wird, wenn wir die Regeln des Rituals nicht genau einhalten. Mitunter scheint es gar, als verstünde Gott bestimmte Sprachen besser als andere, Latein zum Beispiel, Aramäisch, Arabisch oder Sanskrit.

Im Bemühen, alles richtig zu machen, gerät unser Beten zu einer Handlung, die wir bewusst steuern müssen. Es erscheint uns notwendig, über unser Tun die Kontrolle zu haben. Dadurch verkommt das Gebet aber zu einer Reihe von Zwangshandlungen. Wir sind nicht frei, nicht spontan, und hindern uns im Grunde selbst daran, uns im Vertrauen auf die Allmacht und das Allwissen Gottes Ihm hinzugeben. Allwissen heißt doch, dass Gott weiß, wer ich bin, was mich bewegt und was ich brauche. Sofern die Sehnsucht nach dem Verborgenen, nach dem Geist der Güte, nach Licht und Liebe, in uns lebt, betet es bereits in uns. Es geschieht quasi ohne unser bewusstes Zutun. Aus dem Unbewussten oder unserem Traumbewusstsein können uns spontan Worte kommen und natürlich können wir ihnen Ausdruck verleihen. Da es sich aber um eine intime Beziehung handelt, sollten wir uns davor hüten, sie zu entweihen. Wir müssen, mit anderen Worten, aufpassen, dass unser Gebet nicht zu einer bloßen Geste wird, einer theatralischen Darstellung, Frömmelei oder Wichtigtuerei – nicht nur vor anderen, auch vor uns selbst.

Mit diesem Verständnis von Beten sehe ich mich im Einklang mit den Worten des Matthäus-Evangeliums. In der bekannten und wegweisenden Bergpredigt sagt Christus: „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“[1] Wenn wir uns von solchen Begriffen wie „Kämmerlein“, „Vater“ oder „Heiden“ nicht irritieren lassen, können wir erkennen, dass die hier gegebenen Anweisungen sehr präzise sind. Schauen wir sie uns einmal näher an!

In unser Kämmerlein zu gehen und die Tür zuzuschließen, bedeutet natürlich nicht, dass wir uns in eine Klosterzelle zurückziehen sollten. Es heißt vielmehr, nach innen zu gehen, still zu werden und die lärmende, fordernde Welt für die Dauer des Gebetes auszusperren. Der Ausdruck „Vater, der im Verborgenen ist“, meint doch unseren geistigen Ursprung. Er ist nicht deshalb verborgen, weil er Verstecken spielt, sondern weil das Geistige in unserer materiellen Welt nicht erscheinen kann. Ich habe bereits in anderen Beiträgen[2] darauf hingewiesen, dass das Geistige, Verborgene in jedem Menschen das Männliche ist, während das Erscheinende, Körperliche bei uns allen das Weibliche ist. Der Begriff Vater ist also nicht etwa ein Relikt aus patriarchalischen Zeiten, kein Ausdruck von männlichem Chauvinismus.

Der Rat, beim Beten „nicht zu plappern wie die Heiden“ ist ebenfalls eine Formulierung, die wir nicht äußerlich, historisch verstehen sollten. Hier geht es nicht darum, dass sich ein Volk von den anderen abgrenzt und als ein „Auserwähltes“ auf diese hinabschaut. Die sogenannten „Heiden“ oder „Ungläubigen“ sind in uns, die Aspekte unserer Persönlichkeit, die für Aberglaube anfällig sind. Es sind die Stimmen, die von unserem berechnenden Verstand kommen, die Nützlichkeitserwägungen, die Vorstellungen eines strategischen Denkens mit seiner ständigen Gewinnorientierung. Unsere inneren Heiden sind es, die uns zu Zwangshandlungen verführen. Sie kalkulieren mit einem besseren Ertrag, einem größerem Erfolg des Gebetes, indem sie alles ganz korrekt machen, alle rituellen Handlungen exakt ausführen, ihre Bewegungen wie eine eingeübte Choreografie kontrollieren und alle möglichen Formeln herunterbeten.

Wenn es tatsächlich so ist, dass der Vater oder der Schöpfer in uns, weiß, was wir bedürfen, bevor wir ihn bitten, brauchen wir tatsächlich nicht viele Worte zu machen. Gott kennt unsere geheimsten Gedanken, Hoffnungen, Sehnsüchte. Wir müssen sie Ihm nicht laut aufsagen, so als stünde Er weit entfernt oder wäre schwerhörig. Entscheidender noch ist, dass wir im Grunde häufig gar nicht wissen, wessen wir wirklich bedürfen, was wirklich gut für uns wäre. Diese Ungewissheit kommt auch im folgenden Pauluswort zum Ausdruck: „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.“[3]

Wie ist vor diesem Hintergrund die häufig gehörte Empfehlung zu verstehen, man solle laut um Hilfe bitten, wenn man Hilfe erhalten möchte? Die Helfer aus der geistigen Welt, so heißt es, kämen erst in Aktion, wenn man sie ausdrücklich darum bitte. Da aber weder die mit uns verbundenen Verstorbenen noch unsere Geistführer oder Schutzengel physische Ohren haben, ist es doch recht unwahrscheinlich, dass die Schallwellen unserer Stimme sie überhaupt erreichen. Ich schließe daraus, dass die laute Willensbekundung nicht so sehr dem Adressaten, sondern dem Absender selbst gilt. Wir kennen das vom Jawort bei einer Trauung oder beim öffentlichen Eid oder Schwur. Wir bekräftigen unseren Willen mit unserer Stimme. Offenbar hilft uns das laute Aussprechen einer Bitte, eines Versprechens oder einer Absicht, uns innerlich darauf zu fokussieren. Wenn wir Gebete laut oder halblaut sprechen versetzen wir uns selbst in eine andächtige Stimmung, die vor allem darin besteht, dass wir auf unsere inneren Wahrnehmungsorgane fokussiert sind. Die Kunst besteht, wie mir scheint, darin, das Gebet auf natürliche Weise ausklingen oder, wie die Mystiker sagen, es sich selbst im Herzen weitersprechen zu lassen, so dass wir schließlich bemerken, was uns von dort kommt. Das Gebet bedarf der Stille.


[1] Matthäus 6,6-8

[2] Zum Beispiel in „Männlich? Weiblich? – Menschlich!“ und „Vater oder Formel?“.

[3] Römer 8,26

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