Trost

Die stete Nähe der Ewigkeit

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Wer braucht Trost? Brauchen wir Trost? Ist es für uns, die wir uns als selbstständig und eigenverantwortlich betrachten, angemessen, Trost zu suchen?  Oder ist das Bedürfnis nach Trost letztlich nur ein Zeichen von Schwäche? Sollten wir nicht vielmehr Trost spenden? Wenn ein Kind hingefallen oder von einem anderen Kind geschlagen worden ist, nimmt seine Mutter es in ihre Arme und tröstet es. Sie streichelt ihm übers Haupt und trocknet seine Tränen. Ihre Reaktion ist spontan und natürlich. Sie spürt, dass ihr Kind Trost braucht, und sie jetzt ganz für es da sein soll. Eine einfühlsame Mutter weiß sehr wohl, dass ein dreijähriges Kind anders zu trösten ist als ein dreizehnjähriges, und dass auch die Schwere der Verletzung oder Kränkung dabei eine Rolle spielt. Mütter sind auch deshalb die naturgegebenen Tröster, weil sie unsere Ernährer sind. Nahrung stärkt und die Stärkung tröstet. Aber wer tröstet die Mütter?

Wir sind keine Kinder mehr und können nicht länger zu Mama laufen, wenn es uns schlecht geht. Und doch ist nicht zu übersehen, dass wir in unserem Dasein etwas suchen, was uns Trost spendet. Ich vermute, dass viele Süchte letztlich auf dieses Bedürfnis nach Trost zurückgehen. Offenbar hält etwas in uns das Leben in dieser Welt für eine Zumutung und rebelliert dagegen. Es ist, als würde unser inneres Kind fragen: Wieso muss ich da durch? Warum muss ich das alles mitmachen, all diese zahllosen Anforderungen erfüllen? Es erlebt dieses Dasein unter gesellschaftlichen Zwängen als unerträglich. Also suchen wir es – und damit uns selbst – zu beruhigen. Manchmal hilft dazu ein Stück Schokolade oder ein Glas Wein. Ist aber der innere Aufruhr stark, reichen einfache Genussmittel nicht mehr aus, und wir suchen nach Wegen, uns intensiver zu berauschen oder zu betäuben.

Demnach scheint es tatsächlich so zu sein, dass der Wunsch nach Trost aus einer Schwäche hervorgeht. Wir fühlen uns den in der Welt wirkenden Kräften und Gesetzen gegenüber schwach, machtlos. Vielerlei Zwängen sehen wir uns ausgesetzt. Schon das Kind wird mit dem Zwang einer Schulpflicht konfrontiert, einem erheblichen Eingriff in seine Lebensführung, dem es sich nicht entziehen kann. Es sieht sich gezwungen, viele Jahre lang zahllose Dinge auswendig zu lernen, die weder seinem Wohl noch das der anderen dienen. Es wird dazu genötigt, elektronische Geräte zu benutzen, die seine Aufmerksamkeit von der unmittelbaren Wahrnehmung dessen, was ist, ablenken. Auf mehr oder weniger subtile Weise wird es dazu verführt, mit anderen zu wetteifern, was seinen Egoismus dahingehend stärkt, dass es rechthaberisch, rücksichtslos, überheblich oder schmeichlerisch wird. Und diese in der Kindheit erworbenen unmoralischen Fähigkeiten brauchen wir später, um andere zwingende Anforderungen erfüllen zu können, Geld zu verdienen, Besitz zu erwerben, Karriere zu machen, Status zu erlangen. Die Gesellschaft, in der wir leben, scheint nichts anderes zuzulassen.

Manche Kinder setzen sich zur Wehr, leisten Widerstand, weder aufsässig, stellen das gesellschaftliche System in Frage, und müssen erfahren, dass sie als Problemkinder abgestempelt und in Sondereinrichtungen abgeschoben werden. Andere flüchten sich in eine Krankheit und hoffen so, sich den als unzumutbar empfundenen Zwängen zu entziehen. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass es sich bei solch rebellierenden Geistern um Menschen handelt, in denen das innere Kind noch nicht ganz zum Schweigen gebracht wurde. Bei den Erwachsenen, sofern sie gut funktionierende Mitglieder der Gesellschaft geworden sind, ist das anders. Ihnen ist es offenbar gelungen, das innere Kind verstummen zu lassen, die Stimme des Gewissens zu unterdrücken, die Frage nach dem Sinn des Daseins zu verdrängen. Doch dieser zweifelhafte Erfolg hat seinen Preis. Ständig bedürfen sie der Ablenkung in Form eines so oder so gearteten Nervenkitzels. Und es zeigt sich, dass uns nicht nur Drogen oder Glücksspiele, sondern auch Aggressivität, Gewalt und Grausamkeit berauschen können.

Trost richtet uns auf. Auch ohne Worte teilt die tröstende Mutter ihrem Kind mit: „Ich weiß, dass du leidest, dass es Unrecht in der Welt gibt, aber ich bin bei dir und stärke dich mit meiner Liebe.“ Die Mutter zeigt Erbarmen. Als Archetypus ist sie gewissermaßen die personifizierte Barmherzigkeit. Interessanterweise sind die Wörter Barmherzigkeit und Gebärmutter in der hebräischen Sprache eng verwandt. Und auch im Deutschen gibt es eine gewisse Ähnlichkeit, die dem aufmerksamen Ohr nicht verborgen bleibt. Die Mutter bringt uns zur Welt, ermöglicht uns ein Dasein auf Erden. Sie weiß wohl, dass sie uns damit auch dem Leid aussetzt, welches dieses Dasein unweigerlich mit sich bringt. Und um diese Härten für uns abzumildern, steht sie uns bei, nimmt Anteil an unserem Kummer und trägt unsere Last mit. Ihre tröstende Präsenz ist gelebte Barmherzigkeit.

Natürlich gelingt es nicht jeder Mutter, dem Ideal der Barmherzigkeit gerecht zu werden, genauso wenig wie es jedem Vater gelingt, das Ideal der Gerechtigkeit zu verkörpern. Aber die Sehnsucht und das Streben danach zeigen, dass wir innerlich die himmlische Realität erahnen, in der Gott ein Tröster ist. Während Gottvater darauf achtet, dass jedem Gerechtigkeit widerfährt und jedem nach seinem Maß geschieht, zeigt Gottmutter Erbarmen mit den Leidenden, Verzweifelten und erfolglos sich Bemühenden. So wie leibliche Mütter ihre biologischen Kinder trösten, so tröstet Gottmutter die ihren, das heißt unsere Seelen.

Dass die göttliche Seele, die in der jüdischen Mystik „Neschamah“ genannt wird, Trost braucht, mag verwundern. Wir sind vielleicht gewohnt, uns diese Seele als etwas Erhabenes vorzustellen, das von Leid oder Schmerz nicht berührt wird, das immer in Glückseligkeit schwelgt und keine Trauer kennt. Aber die Neschamah ist aufs Intimste mit unserem irdischen Dasein verbunden. Sie erlebt also sehr wohl unsere Verzweiflung und Verwirrung, unsere Verstrickung in die dunkle Welt der Ängste und Sorgen. Diese enge Verbindung mit unserem irdischen Dasein ist für sie wie ein Exil, eine Verbannung, denn sie kann auf Erden nur im Verborgenen existieren. Wir sehen sie nicht und verstehen ihre Welt, die Welt des Geistes, nicht. Vielfach vergessen wir sie, zeigen uns ihr gegenüber unbekümmert und gleichgültig. Und so wird sie verkannt und nicht selten auch verleugnet oder gar verhöhnt. Je stärker unsere Nichtbeachtung, umso intensiver ist ihr Kummer. Wir sind als irdische Persönlichkeit gewissermaßen ihr Geschöpf, aber so, dass sie ihr eigenes Heil untrennbar mit unserem verbunden hat. Um es in ein Bild zu fassen: Entweder steigt sie mit uns auf und freut sich des Lichtes oder sie steigt mit uns ab und leidet unsäglich unter der zunehmenden Finsternis. Denn eines wird sie nicht tun: uns verlassen.

Es sind diese Seelen, die wir als die wahren Kinder Gottes zu verstehen haben, und Gottes Erbarmen ist mit ihnen. So gesehen erscheinen die Worte, die durch den Propheten Jesaja in die Welt kommen, in einem anderen Licht. Hören wir hier nicht die Mütterlichkeit Gottes zur Seele sprechen? „Ich, ich bin euer Tröster! Wer bist du denn, dass du dich vor Menschen fürchtest, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie Gras vergehen, und vergisst den HERRN, der dich gemacht hat, der den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat, und fürchtest dich ständig den ganzen Tag vor dem Grimm des Bedrängers, der darauf aus ist, dich zu verderben?“[1] Was also tröstet die Seele? Es ist die Gegenwart Gottes – ganz so wie die Gegenwart der Mutter das verletzte oder gekränkte Kind tröstet.

Trost ist keine Täuschung. Täuschung tröstet nicht, betrügt uns vielmehr. Der Gedanke, dass es irgendwann besser wird, dass wir irgendwann für die erlittenen Schmerzen, für die Qualen und Mühen entschädigt werden, spendet keinen wirklichen Trost. Gott, könnte man sagen, vertröstet uns nicht auf später. Die Ewigkeit kennt kein „Später“, sondern nur Gegenwart. Leider ist die Angewohnheit, uns selbst oder andere zu vertrösten, sehr verbreitet. Das hat natürlich mit unseren Daseinsverhältnissen zu tun, mit den vielen Dingen, die wir tun müssen oder meinen, tun zu müssen. Unter diesen Umständen geschieht es sehr leicht, dass wir uns mit Vorstellungen vom nächsten Wochenende, vom nächsten Urlaub oder auch von der Zeit nach unserer Pensionierung zum Durchhalten animieren. Dabei ist doch eigentlich klar, dass wir nur jetzt leben – nicht morgen oder übermorgen.

Wir werden in jedem Moment durchs Leben geführt, auch wenn wir das nur hin und wieder deutlicher spüren. Was immer uns da lenkt und leitet, ob man es nun „höheres Selbst“, „Geistführer“ oder „Schutzengel“ nennt, es handelt sich auf jeden Fall um ein Sein, das Schmerz und Trauer kennt. Es mag von erhabener Weisheit sein, uns auf eine Art und Weise verstehen, wie wir selbst es nicht vermögen, und dabei über große Gelassenheit verfügen. Aber es steuert uns nicht etwa bloß routiniert und innerlich unbeteiligt durch unser Dasein. Vielmehr nimmt es den lebhaftesten Anteil an unserem Werdegang. Es kennt unsere Leiden und hofft, dass wir daraus die Kraft schöpfen, uns ihm zuzuwenden. Denn es will in unser Leben einbezogen werden. Es sehnt sich danach, dass wir den Schleier lichten. Stets ist es gegenwärtig, uns nahe. Diese Gewissheit ist es, die uns tröstet. Mit ihr ist uns die Aufgabe gegeben, unser Gespür für diese, wie Gurdjieff sagen würde, „höheren Seins-Teile“ immer weiter zu verfeinern. Dann können wir gemeinsam anfangen, den Kummer Gottes zu lindern.


[1] Jesaja 51,12-13

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