Ein auf- und absteigendes Gebet
In einem früheren Beitrag stellte ich das Enneagramm bereits als einen uralten Erkenntnis-Schlüssel vor. Mehr Hintergrundinformation zu diesem Symbol findest du dort. Im damaligen Artikel ging es insbesondere um die Heilige Dreieinigkeit. Nun, in der Absicht, das Vaterunser tiefer zu ergründen, ziehe ich erneut das Enneagramm zu Rate. Angeregt werde ich dazu durch den Gurdjieff-Schüler John Godolphin Bennett, der ganz am Ende seines Büchleins Enneagram Studies, das erst in seinem Todesjahr 1974 veröffentlicht wurde, das Vaterunser im Enneagramm darstellt.[1] Dazu erklärt er, dass es eine große Sache sei, detailliert über das Vaterunser zu sprechen, und er nur ein paar Dinge ansprechen werde. Tatsächlich ist dann auch schon nach zweieinhalb Seiten Schluss. Im Grunde kommt dabei nur Allgemeines zur Sprache, das hier nicht wiederholt zu werden braucht. Noch während der Lektüre wurden mir aber sofort zwei Dinge klar. Erstens: Durch das Enneagramm wird ein innerer Zusammenhang des Vaterunsers sichtbar, über den Bennett – zumindest im erwähnten Buch – schweigt. Und zweitens: Einen tieferen Einblick in das Vaterunser erhält man, wenn es im Enneagramm rückwärts dargestellt wird. Dazu gleich mehr.
Der Vollständigkeit halber zeige ich hier zuerst jene Zuordnung der einzelnen Gebetszeilen zu den neun Punkten des Enneagramms, die Bennett vornimmt. Siehe obige Abbildung! Das Gebet verläuft oben angefangen bei der 9 im Uhrzeigersinn. Was dabei augenscheinlich wird, ist die Tatsache, dass es sozusagen aus dem Himmel auf die Erde herabsteigt. Es fängt im rein geistigen Ursprung allen Seins an und sinkt bis in den Bereich von Schuld und Versuchung hinunter. Diese Bewegung widerspricht aber sonstigen Darstellungen im Kreislauf des Enneagramms, stellt der Lauf im Uhrzeigersinn doch sonst eine Art Evolution vom Materiellen zum Geistigen dar. Auch Bennett selbst sieht das ähnlich. So bezeichnet er in einer Darstellung genannt „Transformation of Man“ den ersten Bereich zwischen 9 und 3 als „exoterische Stufe“, den Bereich zwischen 3 und 6 als „mesoterische“ oder mittlere Stufe und schließlich jenen zwischen 6 und 9 als „esoterische Stufe“.[2] Dementsprechend ordnet Klausbernd Vollmar in seinem Buch „Das Enneagramm“ die gleichen Bereiche der Reihe nach Körper, Seele und Geist zu.[3]
Wie gesagt, das Vaterunser widersetzt sich dieser Zuordnung, da es, wie mir scheint, keine Evolution vom Materiellen zum Geistigen, sondern die gegenläufige Bewegung, also eine Involution vom Geistigen zum Materiellen darstellt. Anders gesagt: Der Betende ruft das Geistige auf sein irdisches Dasein herab. Das ist insofern stimmig, als die gesamte Schöpfung aus dem Geist Gottes hervorgeht. Vom Geist kommt das Heil, das Heilwerden, die Heiligung. Wenn also das Vaterunser im Uhrzeigersinn dargestellt wird, so zeigt es das Wirken Gottes in der Welt. Es zeichnet den Weg des Geistes aus den höchsten Sphären bis hinab in die Dichte der physischen Materie nach.
Das ist aber nicht der Weg des Menschen, wenn wir davon ausgehen, dass es ihm gerade obliegt, wie der verlorene Sohn zum Vater heimzukehren. Für uns als inkarnierte Wesen bewegt sich das Gebet unserer Sehnsucht entsprechend aus den Verstrickungen in der physischen Welt hinauf zur Freiheit des rein Geistigen. Man könnte es auch so sagen: Der normale Verlauf des Vaterunsers erzählt, wie Gott uns im Dasein entgegenkommt. Liest man jedoch das Gebet rückwärts, so zeigt es, wie wir unsererseits Gott entgegengehen können. Das erinnert mich an den berühmten Traum des biblischen Erzvaters Jakob, in dem dieser sieht, wie Engel auf einer Himmelsleiter auf- und absteigen. Auch das Vaterunser scheint sowohl auf- als abzusteigen. Im weiteren Verlauf dieses Beitrages werde ich versuchen, die ungewöhnliche Lesart vom Ende rücklaufend zum Anfang als die Erzählung unseres Weges vom irdischen Dasein zurück zum geistigen Ursprung nachvollziehbar darzustellen.
Ich erwähnte eingangs schon den inneren Zusammenhang des Gebetes. Wollen wir diesem im Enneagramm nachspüren, so schauen wir nicht länger auf die Abfolge im Kreislauf, sondern richten unsere Aufmerksamkeit auf die Bewegung im Innern des Kreises, insbesondere auf die markante Figur mit sechs spitzen Winkeln. Die in der Abbildung eingezeichneten Pfeile lassen eine Richtung innerhalb dieses Sechsecks erkennen. Diese verläuft von 1 über 4 – 2 – 8 – 5 und 7 wieder zu 1. Diese Reihenfolge ist nicht willkürlich festgelegt. Sie zeigt sich, wenn wir 1 durch 7 teilen, wenn also die Einheit in die Sieben aufgebrochen wird, so wie sich das unsichtbare Licht im Spektrum der sieben Regenbogenfarben bricht. 1 : 7 ergibt 0,142857142857142857… usw.
Bevor ich nun untersuche, was die einzelnen Verbindungen der sechs Ecken über den inneren Zusammenhang des Gebetes aussagen, möchte ich betonen, dass, so wie ich es verstehe, die Zeitqualität im Innern des Enneagramms eine andere ist als die außen im Kreislauf von 1 bis 9. Der Weg um die Figur herum stellt die geschichtliche Zeit dar, die Chronologie der Ereignisse. Hier folgt ein Schritt auf dem anderen und es ist nicht möglich, den zweiten vor dem ersten zu tun. Jedes geschichtliche Ereignis hat seine Ursache in dem, was zeitlich vorher geschehen ist. Kurz gesagt: Es geht um die Zeit, wie wir sie auf Erden erfahren. Anders im Innern des Kreises! Dort wirken Erinnerung und Intuition oder, in anderen Worten, innere Rückschau und Vorsehung. Das, was im Kreis zeitlich nacheinander erscheint, wird hier räumlich nebeneinander erlebbar. Die Fragen „Woher?“ und „Wohin? Verschmelzen zu einer Einheit. Natürlich, wenn ich etwas über den inneren Zusammenhang des Gebetes sage, kann ich das nur in einer zeitlichen Reihenfolge tun. Ich bitte dabei aber zu bedenken, dass es um eine Gesamtheit geht.
Fangen wir also bei der 1 an, dort, wo unser Weg auf Erden beginnt. Siehe Abbildung unten! Hier ist von einem Reich die Rede, einer Schöpfung also, die uns auf den Vater, auf die Kraft und Herrlichkeit des Schöpfers, verweist. Schöpfung heißt für jeden von uns konkret: Geburt. Als irdisches Geschöpf ist es uns nicht gegeben, unseren Vater selbst wahrzunehmen. Die 9 bleibt uns verborgen. Wir können Gott aber in seinen Werken erblicken. Sobald wir durch Geburt als physische Erscheinung ins Leben treten, sind zwei Dinge gesetzt. Zum einen sind wir nun der geschichtlichen Zeit unterworfen und zum anderen auf physische Nahrung für unseren Körper angewiesen. Zwar spüren wir, dass wir aus der Ewigkeit des Vaters erschaffen werden, doch als zeitgebundenes Geschöpf bedürfen wir unser täglich Brot. Diese Spannung kommt in der Verbindung 1 – 4 zum Ausdruck.
Nun lesen wir sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, dass der Mensch nicht von Brot alleine lebt. Offensichtlich aber besteht die Gefahr, diese Wahrheit zu vergessen. Dann begnügen wir uns mit der physischen Nahrung, das heißt im weiteren Sinne mit allem Physischen oder Weltlichen schlechthin, mit materiellem Wohlstand, beruflichem Erfolg, gesellschaftlicher Anerkennung. Alle diese Dinge sind notwendigerweise bloß in beschränktem Umfang vorhanden. Konzentrieren wir uns ausschließlich darauf, kommt zwangsläufig die Sorge, nicht genug zu bekommen, Mangel zu erleiden. Diese Sorge verengt unseren Blick auf unser eigenes, persönliches Wohl. Dann sehen wir uns in einem Kampf ums Dasein und betrachten andere als Konkurrenten oder Feinde, die unsere Versorgungslage gefährden könnten. Verführt uns also das täglich Brot dazu, nur dieses gelten zu lassen, werden wir zu Egoisten. Deshalb geht die innere Bewegung des Gebetes von der 4 zur 2. Dort nämlich wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass uns die irdische Nahrung, überhaupt alles, was die Erde an Gütern und Genüssen zu bieten hat, nicht dazu verführt, egoistisch zu werden, das heißt, dem Bösen zu verfallen.
Die Hoffnung, vom Bösen erlöst zu werden, öffnet uns für das, was wir „Himmel“ nennen, wozu auch das Himmelreich-in-uns gehört. Deshalb geht von Position 2 der Blick in Richtung 8. Wir spüren, dass Erlösung nur von dort kommen kann, vom Vater, unserem geistigen Kern. Doch wie kommt sie zustande? Was hilft uns konkret weiter? Es ist die Hingabe, die Preisgabe dessen, was wir als unseren Eigenwillen verstehen. Wir stellen uns in den Dienst des höheren, himmlischen Willens, so dass dieser durch unser Handeln auf Erden Wirklichkeit wird. Die Hoffnung auf Erlösung (Position 2) durch den Himmel (Position 8) macht das „Dein Wille geschehe“ (Position 5) unumgänglich. Indem wir so den himmlischen Vater oder das Göttlich-Geistige zum Zentrum unseres Daseins machen, heiligen wir Seinen Namen (Position 7). Dann sind wir tatsächlich Kinder Gottes. Diese Heiligung Seines Namens ließe sich genau in die Worte fassen, die wir am Anfang, auf Position 1, lesen: „Dein ist das Reich und die Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit.“ So bildet die Bewegung von 1 über 4 – 2 – 8 – 5 und 7 zurück zur 1 eine Ganzheit.
Es ließe sich gewiss noch viel mehr zum Vaterunser sagen, gerade in dieser Zuordnung zum Enneagramm. So könnte etwa die Frage nach der Bedeutung der Punkte 3 und 6 für den Weg, den das Gebet beschreibt, Interessantes zutage fördern. Auch scheint mir gerade die rückläufige Lesart ein erhellendes Licht auf die charakteristische Bruchstelle im Kreislauf zwischen den Punkten 4 und 5 zu werfen. Aber ich lasse es für jetzt dabei bewenden. Schließlich soll der Beitrag nicht zu lang werden. Dafür lade ich dich ein, die Abbildungen und Erläuterungen auf dich wirken zu lassen. Öffnest du dich deiner inneren Weisheit, wirst du zweifellos selbst neue Zusammenhänge entdecken.
[1] J.G. Bennett, Enneagram Studies, Samuel Weise, Inc., Maine, 1983, Seiten 131-133
[2] Ebenda, Seite 61
[3] K. Vollmar, Das Enneagramm. Praktische Lebensbewältigung mit Gurdjieffs Typenlehre, Goldmann Verlag, München, 1993, Seite 40
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