Wahrheit

Ganz oder gar nicht

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„Die Lüge ist überall. Sei du die Wahrheit! Widerspreche weise, streite nicht!“ Mit diesem Rat aus der Nacht wuchs ich heute Morgen, das heißt, am 1. September 2024, auf. Und als ich während meiner morgendlichen Yoga-Stunde darüber nachsann, kam ein weiterer Hinweis hinzu: „Die Wahrheit ist im Körper.“ Diese Mitteilungen aus der verborgenen Seite meines Seins erreichen mich in einer Zeit widersprüchlicher, verstörender, teils schockierender Nachrichten in den Medien. Jeden Tag scheint es neue Enthüllungen zu geben. Wer in den sogenannten alternativen Medien unterwegs ist, muss den Eindruck gewinnen, dass überall schmutzige Wäsche gewaschen wird. Wohin man schaut, gibt es Intrigen, Skandale, Verrat, Korruption. Man fragt sich immer wieder: Kann das stimmen? Ist das wahr? Vor diesem Hintergrund ist die heutige Weisung aus der Nacht gewiss nicht nur für mich relevant. Was sie konkret für uns bedeuten könnte, versuche ich in diesem Beitrag zu ergründen.

Die Aufforderung, die Wahrheit zu sein, stellt zunächst unmissverständlich dar, dass es nicht um das Haben von Informationen geht. Das ist eine wichtige Unterscheidung, gibt es doch viele Menschen, die meinen, die Wahrheit zu kennen, sobald sie „richtig“ informiert sind. Auf den ersten Blick scheint ihre Einschätzung logisch und zutreffend. Wir sehen ja, dass Informationen in großem Umfange manipuliert werden. Die neuen Technologien haben diesbezüglich Möglichkeiten eröffnet, die es nie zuvor gab. Manches wird aus seinem Kontext gelöst und in einen anderen Zusammenhang versetzt, anderes verschwiegen und einiges auch gezielt entstellt. Dabei prasseln die Informationen immer schneller auf uns ein, so dass wir kaum Gelegenheit haben, in Ruhe darüber nachzudenken. Alle Manipulationen zu durchschauen und zu den reinen, überprüfbaren Fakten zu gelangen, scheint tatsächlich der richtige Weg zur Wahrheit. Aber wenn ich dann meine, eine „richtige“ Information erhalten zu haben, spüre ich sogleich, dass diese den betroffenen Menschen oder Menschengruppen doch nicht gerecht wird. Ich kenne damit die Wahrheit des anderen noch lange nicht – so wie ich auch die Wahrheit meiner selbst nicht kenne.

Informationen drängen von allen Seiten auf uns ein. Sobald wir anfangen, sie in Richtig und Falsch einzuteilen, trennen sie uns von anderen, die aufgrund ihrer jeweiligen Charaktere, ihrer Ängste und Bedürfnisse sowie ihrer persönlichen Biografien zu anderen Einschätzungen kommen. Es hat für mich bisweilen den Anschein, als führe gerade unsere moderne Informationsgesellschaft dazu, das jeder in seiner eigenen Informationsblase isoliert ist. Nun kommt die Mitteilung: „Die Wahrheit ist im Körper.“ Und tatsächlich könnte man mit einiger Berechtigung feststellen, dass der Körper nicht lügt. Wie wir aussehen, wie wir uns bewegen, wie unsere Stimme klingt oder unsere Gesichtszüge sind, entzieht sich unserer bewussten Kontrolle. Weder mit Schminke oder modischen Accessoires noch mit Schauspielerei können wir die Wahrheit, die sich durch unseren Körper ausdrückt, verbergen. Die anderen spüren doch, dass wir etwas zu verbergen suchen, dass wir nicht authentisch sind.

Etwas von dem, wer wir sind, zeigt sich in unserem Körper, seiner Gestalt und seinen Bewegungen. Insofern ist Wahrheit im Körper. Aber der Hinweis auf den Körper geht noch weiter. Ich verstehe ihn so, dass Wahrheit ein lebendiges Ganzes ist. Sie ist, bildlich gesprochen, auch in meinem kleinen Finger oder Zeh, insofern als diese zum Ganzen dazugehören. Doch wenn ich den Finger vom Organismus trennen würde, wäre er nicht länger in der Wahrheit. Er würde erstarren und zerfallen. Würde mir jemand, Gott behüte, alle Finger und Zehen abtrennen, hätte er scheinbar 20 Teile der Wahrheit, in Wirklichkeit aber nur totes Gewebe. Ich schließe daraus, und ich tue es zu meiner eigenen Überraschung, dass Teilwahrheiten Lügen sind. Man kann den Satz auch umdrehen, allerdings mit einer Einschränkung, denn vermutlich sind nicht alle Lügen Teilwahrheiten. Aber die meisten Lügen stellen sich mir tatsächlich als solche dar.

„Sei die Wahrheit!“, hieße demnach: „Sei ganz!“ Ihrer Natur nach kann diese Ganzheit nur allumfassend sein. In der Welt, in der wir leben, scheint sie ein Ding der Unmöglichkeit. Wie sollten wir denn auch in der Lage sein, alles, was an allen möglichen Orten jemals geschah und künftig geschehen könnte, zusammenzuschauen? Der Verstand, unser Intellekt, ist damit überfordert. Das zeigt für mich den Offenbarungscharakter der Wahrheit; sie eröffnet sich dem Sucher plötzlich – wie eine Gnade. Wenn ich sage: „Mir geht ein Licht auf“ oder „mir leuchtet etwas ein“, erinnert das an die Überraschung, mit der Erkenntnis eintritt. Das Licht ist da und auf einen Schlag sieht alles anders aus. Fehlt das Licht, sammeln wir viele Teilwahrheiten und unsere Verwirrung wird immer größer. Denn egal, wie angestrengt wir uns bemühen, aus all diesen Teilen ein Ganzes zu konstruieren, so bleibt am Ende doch der Eindruck des Willkürlichen und Gewollten. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir etwas konstruieren, was unseren Vorurteilen entspricht, was uns recht zu geben scheint. Daher kommt die häufig geäußerte Einschätzung, dass sich jeder seine, wie es heißt, „eigene Wahrheit“ konstruiere. Aber Wahrheit kann nicht konstruiert werden.

„Die Lüge ist überall“, raunt es aus der Nacht. Die Welt des Menschen ist voller Informationen, die wir recherchieren, kritisieren, beweisen oder widerlegen können. Von dort führt kein Weg zum wahrhaftigen Sein. Die Wahrheit steht auf einem anderen Blatt. Und doch scheint es notwendig, viele solcher Teilwahrheiten oder Lügen zu kennen, um in diesem ganzen Gestrüpp plötzlich so etwas wie eine innere Struktur oder, anders gesagt, einen Sinn zu erkennen. So verstehe ich eine Aussage von Gurdjieff, auf die sein Schüler Bennett hinweist: „To know is to know all, not to know all is not to know. To know all it is necessary to know very little, but to know very little, one must first know pretty much.“[1] Zu Deutsch: „Zu wissen, heißt alles zu wissen. Nicht alles zu wissen, heißt nicht zu wissen. Um alles zu wissen, ist es notwendig sehr wenig zu wissen. Aber um sehr wenig zu wissen, muss man zunächst ziemlich viel wissen.“

Die Wahrheitssuche ist also nicht zu vergleichen mit dem Zusammensetzen eines Puzzles, bei dem das Bild umso klarer wird, je mehr Puzzlestückchen wir an ihren Platz gelegt haben. Wir erleben ja gerade, dass die Zahl der Puzzleteilchen ständig weiterwächst und das Bild immer verworrener wird. An irgendeinem Punkt in dieser fortschreitenden Fragmentierung erkennen wir, dass wir gar nichts haben. Wir kommen der Wahrheit nicht näher. Vielmehr scheint sie sich uns zu entziehen. Also setzen wir anders an und fragen uns, woher diese Fragmentierung kommt. Da verschiebt sich unser Fokus von dem, was wir haben oder nicht haben, zu dem, wer wir sind oder eben nicht sind. Und wir sehen: Um der Verwirrung zu entkommen, ist es notwendig, wahrhaftig zu sein.

Doch was heißt das? Ich verstehe, was es heißt, ehrlich zu sein, nämlich nichts zu nehmen, was mir nicht gehört. Ich weiß auch, was es bedeutet, aufrichtig zu sein, und zwar mich nicht anders zu geben, als ich bin. Aber wahrhaftig? Ich spüre, dass es dazu notwendig ist, die andere Welt, die Welt des Geistes miteinzubeziehen. Letztlich, das ahne ich, sind die erscheinende und verborgene Welt, das Bewusste und Unbewusste, das Diesseitige und Jenseitige doch eins. Hier, in dieser Welt der Zeitlichkeit mit ihrer ständigen Entwicklung, mit ihrem unablässigen Kommen und Gehen, kann es nur Teilwahrheiten geben. Ich habe also nur die Möglichkeit, ganz zu werden, wenn ich mich öffne für das, was hier nicht in Erscheinung treten kann. Das Geistige ist das Verbindende. Es verbindet nicht nur meine erscheinende mit meiner verborgenen Seite, Körper, Seele und Geist; es verbindet mich auch mit allen anderen. Die Wahrheit ist doch, dass wir alle Kinder Gottes sind.

Die Teilwahrheiten oder Lügen trennen uns; die Wahrheit eint uns. Sind wir wahrhaftig, wissen wir, dass wir in der Welt nur Teilwahrheiten haben können. In der erscheinenden Welt gibt es nur gebrochenes Licht und damit unendliche Abstufungen von Farben und farbigen Schatten. Als Wahrhaftige verlassen wir uns nicht auf sie, beharren nicht auf unser Recht. Stattdessen leben wir aus dem Geist der Einheit. Die Wahrheit zu sein, ist eine große Herausforderung, denn sie erfordert Hingabe oder, anders gesagt, den Verzicht auf jede Form von egoistischer Selbstbehauptung. Diese Hingabe ist unumgänglich, wenn wir den Streit in unserem Leben beenden wollen. Sind wir wahrhaftig, lassen wir es zu, dass alle Teilwahrheiten in einem anderen Licht erscheinen. Wir reagieren nicht länger automatisch auf diesen oder jenen Eindruck, sondern wirken im Sinne des Seins, das heißt, im Sinne der Einheit. Das erinnert mich an die letzten, von Wahrheit getragenen Sätze des Tao Te King von Laotse: „Des Himmels SINN ist fördern, ohne zu schaden. / Des Berufenen SINN ist wirken, ohne zu streiten.“[2]


[1] J.G. Bennett, Enneagram Studies, Samuel Weise, Inc., Maine, 1983, Seite 6

[2] Laotse, Tao Te King, Das Buch vom Sinn und Leben, übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf-Köln, 1979, Abschnitt 81, Seite 124

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