Bescheidenheit ist ein Anfang
Die Entwicklungen in der Welt nehmen ihren Lauf, Kriege und Katastrophen, politische, soziale und wirtschaftliche Verwerfungen. Wie nie zuvor in der Geschichte haben uns die modernen Kommunikationsmittel in die Lage versetzt, rund um die Uhr und fast in Echtzeit davon zu erfahren. Das Internet, die sozialen Medien und auch die Zeitungen sind voll von schlechten Nachrichten, Probleme aller Art. Das weckt natürlich ein Gefühl des Unbehagens und der Dringlichkeit. Es scheint, als würde immer alles schlimmer werden, als würden uns die Schwierigkeiten über den Kopf wachsen. Verschärft wird die Situation noch durch die wachsende Weltbevölkerung. Eine Art von Endzeitstimmung kommt auf. Die einen fürchten den Weltuntergang, die anderen hoffen auf einen fundamentalen Wandel hin zum Weltfrieden.
Ich denke, es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass unsere moderne Weltwahrnehmung und unsere dadurch verursachte Gemütslage stark von der jeweiligen Nachrichtenlage bestimmt werden. Wir wissen doch sehr gut, dass es auch in früheren Jahrhunderten oder Jahrtausenden Krisen und Konflikte gab, Mord und Totschlag, Eroberung und Unterwerfung, auch Erdbeben, Vulkanausbrüche und sämtliche Folgen eines sich immer wieder wandelnden Klimas: Überschwemmungen, Dürren, Missernten, Hungersnöte. Weil aber damals die Wenigsten wussten, was im nächsten Dorf los war, geschweige denn, was in Nachbarländern oder gar auf anderen Kontinenten geschah, lebten sie – zumindest in dieser Hinsicht – unbeschwerter. Ich plädiere natürlich nicht dafür, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und ein Leben wie in vor-elektronischen Zeiten zu führen. Wohl aber meine ich, dass es uns guttäte, mit mehr Gelassenheit auf das Weltgeschehen zu blicken.
Was bedeutet das? Vielleicht verwechselst du Gelassenheit mit Fatalismus. Doch der Unterschied zwischen beiden könnte größer kaum sein. Wer fatalistisch eingestellt ist, glaubt, der Weltuntergang sei unabwendbar. Er resigniert, glaubt nicht daran, etwas ändern zu können und legt die Hände in den Schoß. Zugleich verdrängt er sein Gefühl der Ohnmacht, indem er sich ablenkt, sich betäubt oder irgendwelchen Leidenschaften hingibt. Er genießt, was er bekommen kann, und denkt sich: Nach mir die Sintflut. Vielleicht sieht er sich selbst als Realist, aber im Grunde ist er ein Zyniker, ein Mensch voller Ängste.
Auch von der Gleichgültigkeit unterscheidet sich die Gelassenheit deutlich. Wenn wir gelassen oder, wie man auch sagen kann, nüchtern auf die Ereignisse in der Welt schauen, heißt das nicht, dass sie uns gar nicht berühren. Im Gegenteil! Wir erleben die Dinge auf intime Weise in uns, echauffieren uns allerdings nicht, da wir keine Partei ergreifen. Wir sehen Leid und Verwirrung auf beiden Seiten – bei den Gewinnern und Verlierern, den Kirchgängern und Atheisten, den Reichen und Armen, den Regierenden und Oppositionellen. Wir ahnen, dass beide Seiten von ihrem jeweiligen Standpunkt aus gesehen Recht haben. Das macht ja gerade die Rechthaberei zu so einem hartnäckigen Problem. Lösen wir uns vom Gefühl, Recht zu haben, zu wissen, was recht ist, geht uns allmählich auf, dass Gerechtigkeit etwas ganz anderes ist.
Der Gelassene sieht die Geschehnisse in der Welt als Ausdruck seelisch-geistiger Realitäten. Für ihn entsprechen die irdischen Verhältnisse sowohl dem, was in seinem Unbewussten lebt, als auch dem, was im Unbewussten kleinerer oder größerer Kollektive lebt. Gemeint ist also nicht das, was bewusst gedacht, geplant oder geäußert wird, sondern die Qualität dessen, was wir unser Sein nennen könnten. Über unser Sein können wir nicht einfach verfügen, so wie wir über unseren Körper verfügen, wenn wir Sport treiben oder ein Musikinstrument spielen. Wir sind, wie wir sind. Versuchen wir uns anders zu geben, werden wir unaufrichtig. Wir machen uns selbst und anderen etwas vor. Als Spiegelbilder dieser geistigen Realitäten sind die Entwicklungen in der Welt nicht unabänderlich. Wir sind keineswegs dazu verdammt, hilflos zuzusehen, wie alles zugrunde geht. Allerdings erkennen wir in der Gelassenheit, dass Veränderungen nur vom Geiste her kommen können.
Wenn wir das erkennen, verstehen wir, dass wir die Welt nicht durch bewusstes Eingreifen ändern können. Denn dieses Eingreifen ist immer auch ein Partei-Ergreifen, so dass die von uns erzwungene Änderung unweigerlich eine Gegenbewegung auslöst oder diese stärkt. Das Hin und Her ginge also weiter. Weil wir die gesellschaftlichen Entwicklungen oft nicht verstehen, so dass sie uns beunruhigen und Angst machen, möchten wir etwas tun, tätig werden, zum Beispiel uns politisch engagieren. Vielleicht treibt es uns, eine Partei zu gründen, an Demonstrationen teilzunehmen oder sogenannte Aufklärungsarbeit zu leisten. Und so wichtig und nützlich solches Engagement in weltlicher Hinsicht auch immer erscheint, so müssen wir uns doch klarmachen, dass wir damit im Wesentlichen nichts ändern.
Wir sagen, jemand ist kreativ, wenn er sich künstlerisch betätigt oder eine Erfindung macht. Aber Filme, Theorien, Designerkleidung, Medikamente, Cocktailgetränke oder technische Geräte gibt es schon so viele. Indem wir weitere hinzufügen, ändern wir weder die Struktur der Konsumgesellschaft mit ihrer Ausbeutung und Verschwendung noch die Psyche der Konsumenten. Es gibt nichts wirklich Neues, nur unendlich viele Variationen des Altbekannten. Und so können auch die bahnbrechendsten Erfindungen die Welt nicht ändern. Besonders drastisch zeigt dies das beklemmende Beispiel der ständigen Weiterentwicklungen in der Waffentechnologie.
Und doch liegt in uns das Potenzial zur Erneuerung, zum Wandel. Dieses schöpferische Potenzial ist im Innersten mit unserem Sein verbunden, mit dem, was man als unsere seelisch-geistige Realität bezeichnen könnte. Von dort kommen unsere Träume, unsere Einfälle und spontanen Handlungen, auch die scheinbaren Zufälle auf unserem Weg durchs Leben. In unserem Tagesbewusstsein haben wir darauf keinen Zugriff. Wir können unsere Träume nicht machen, wir können auch die Begegnungen, die wir im Laufe unseres Lebens haben, nicht planen. Genauso wenig sind wir in der Lage, jede unserer Bewegungen zu kontrollieren. Versuchten wir es dennoch, würden wir schwere psychische Schäden davontragen. Wir können eine bessere Welt mit Frieden für alle nicht machen, aber wir können uns im Innern nach Frieden sehnen. Die Sehnsucht ändert uns insofern, als wir uns mit ihr innerlich an ein höheres Wollen wenden. Wir erkennen, dass wir ohne diesen höheren Willen, der der eigentlich wirkliche Wille ist, nichts tun können.
Was wirkt ist unser Sein. Was wir tun oder sagen, ist nur in dem Maße wirksam, wie es von unserem Sein getragen wird. In unübertroffener Prägnanz bringt Goethe[1] das auf den Punkt, indem er sagt: „Wer Gutes will, der sei erst gut.“ Doch wer kann schon von sich behaupten, dass er „gut“ sei. Ich denke hier an die Erwiderung Jesu, als er mit „guter Meister“ angesprochen wird: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott.“[2] Was lehrt uns das? Richtig! Bescheidenheit.
Werden wir in Bezug auf die Geschehnisse in der Welt gelassen, dann nicht, weil wir indifferent oder gefühllos sind, sondern weil wir erkennen, dass wir, insofern wir Teil dieser erscheinenden Welt sind, nichts ändern können. Also öffnen wir uns nach innen hin, setzen unser Vertrauen in die in uns verborgene Weisheit und bitten sie, durch uns zu wirken. Wir laden unsere unbewusste seelisch-geistige Realität ein, uns zu inspirieren, uns Worte und Handlungen einzugeben, die sich zum Wohle aller auswirken mögen. Je stärker unser Vertrauen, umso reiner unsere Bescheidenheit. Wir verzichten darauf, unsere egoistischen Interessen und Plänen zu verfolgen oder unsere Ansichten rechthaberisch zu verteidigen. Stattdessen stellen wir uns in den Dienst des größeren Ganzen. So verstanden impliziert Gelassenheit die Bereitschaft, wirklich Verantwortung zu übernehmen – für uns selbst und unsere Bedeutung in der Welt. Von außen betrachtet könnte es so aussehen, als würden wir uns nur mit uns selbst beschäftigen und uns gar nicht gesellschaftlich engagieren. In Wirklichkeit aber hätte unser Beitrag mehr Substanz als all die lauten, aggressiven und idealistischen Aktivitäten der Weltverbesserer zusammen.
[1] Johann Wolfgang Goethe, Faust, der Tragödie zweiter Teil, Erster Akt, Kaiserliche Pfalz, Vs. 5053
[2] Markus 10,18
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