Philosoph, Psychotherapeut, Astrologe, Runenforscher
Der Mann, der wie kein anderer mein Blick auf das Geistesleben geprägt hat, ist Manfred Keyserling. Ich traf ihn zum ersten Mal als junger Suchender im Frühjahr 1985 und besuchte ihn bis zu seinem Tod in unregelmäßigen Abständen. 1987 waren er und seine Frau Brigitta im mittelalterlichen Rathaus Pfullendorfs unsere Trauzeugen. Manfred Keyserling war der Sohn des zu seiner Zeit berühmten Philosophen Hermann Keyserling sowie der Bismarck-Enkelin Goedela Keyserling und wurde am 3. Juli 1920 im Schloss Friedrichsruh geboren. Er starb am 8. April 2008 in seinem bescheidenen Eigenheim im Pfullendorfer Ortsteil Aach-Linz.
Es ist mir nicht möglich, zu erzählen, wer genau Manfred Keyserling war. Zu vielfältig und vor allem zu tiefgründig war seine Individualität, als dass ich diese auch nur ansatzweise adäquat beschreiben könnte. Ich muss mich damit begnügen, anekdotisch einige Einzelheiten zu erwähnen.
Während sein Vater von den nationalsozialistischen Behörden mit einem Rede-, Reise- und Publikationsverbot belegt worden war, wurde Manfred 1942 an die Ostfront nach Stalingrad verlegt. Schon am nächsten Tag erlitt er eine Schussverletzung und lag 24 Stunden zwischen den Fronten, bis er von Kameraden geborgen werden konnte. Im Lazarett musste ihm das rechte Bein oberhalb des Knies amputiert werden.
1948 wurde er Schüler von Georg Iwanowitsch Gurdjieff, der damals in der Rue des Colonels Rénard in Paris lebte. Bei einer seiner legendären „Idiotenrunden“ bezeichnete Gurdjieff seinen jungen Schüler als einen „idiot zigzag“, was einen Hinweis auf den Grad seiner geistigen Entfaltung gibt. Denn laut John Godolphin Bennett, einem Hauptschüler Gurdjieffs, kam in den Trinkrunden selten eine höhere als diese neunte Stufe vor.
Ebenfalls in den ersten Jahren nach dem Krieg, als Herr Keyserling nach dem Tod seines Vater bei seiner Mutter in Innsbruck war, bekam er eines Tages Besuch von einem Fremden, den ein gemeinsamer Bekannter zu ihrem Haus führte. Der Fremde breitete auf ihrem Küchentisch eine landkartengroße Zeichnung aus und erklärte: „Dies ist die biblische Geschichte in Geometrie.“ Im Laufe des Gesprächs erklärte der Mann, er habe geträumt, er solle Manfred aufsuchen und ihm eine uralte Runen-Überlieferung anvertrauen. Viel später, Ende der achtziger Jahre, erzählte Herr Keyserling mir, er arbeite nun seit vierzig Jahren mit dieser Überlieferung und fange erst an, sie zu verstehen.
Eines der bezeichnenden und auch rätselhaften Ereignisse ist das folgende. In den fünfziger Jahren wurde Manfred Keyserling von der niederländischen medial begabten Heilerin Greet Hofmans zu einem Kongress nach Holland eingeladen. Das Besondere: Alle Teilnehmer erhielten ihre Einladung auf telepathischem Wege! Greet Hofmans war damals eine in den Niederlanden bekannte Persönlichkeit, die mit Königin Juliana eng verbunden war. Ich weiß über den besagten Kongress nur soviel, dass Herr Keyserling tatsächlich hingefahren ist und teilgenommen hat.
1992 besuchte ich zusammen mit Manfred Keyserling die damalige kasachische Hauptstadt Alma Ata, wo wir an einem spirituellen Kongress mit dem englischen Titel „Towards Spiritual Concord“ teilnahmen. Ich war wiederholt Zeuge bei seinen Begegnungen mit diversen Schamanen und geistigen Heilern, die ihn, obwohl er ein Fremder war, aufs Herzlichste und wie einen „Kollegen“ begrüßten. Als wir eines Abends in der großen Kongresshalle die Heilsession eines Heilers namens Sary Aulie beiwohnten, fragte Herr Keyserling mich, wie hoch ich denn meine, dass die Bühne sei. Ich schätzte sie auf etwa acht Meter. Dann berichtete er, dass er hinter Sary Aulie eine Lichtgestalt sähe, die bis zur Decke reichte. Später ergänzte er, dass er dieses Lichtwesen in sich sah, nachdem er die Augen geschlossen hatte, was ihm gezeigt hätte, dass es sich um ein Wesen handelte, das auch mit ihm arbeitete.
Einmal in den Nullerjahren, als meine Frau und ich die Keyserlings besuchten, erzählte meine Frau von ihrer Arbeit mit lernbehinderten Kindern. Herr Keyserling überraschte uns mit der Aussage, dass er und seine Frau den Auftrag erhalten hätten, eine Schule für „lernbehinderte Seelen“ aufzumachen. Wir waren eher erheitert von der unkonventionellen Formulierung als überrascht von der Mitteilung selbst. Wir ahnten schon länger, dass beide Keyserlings in Dimensionen unterwegs waren, zu denen unser Bewusstsein noch keinen Zugang hatte.
Manfred Keyserling war in erster Linie Philosoph. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war allerdings praktischer Natur. Es kamen Menschen aus verschiedenen Ländern Europas zu ihm, mit denen er auf der Grundlage philosophischer Erkenntnisse und geistiger Schau psychotherapeutisch arbeitete. Weil er häufig unmittelbar sah, was das Problem seines Gegenübers war, konnte er Übungen vorschlagen, die individuell zugeschnitten waren. Bei mir handelte es sich vor allem um Körperübungen in Verbindung mit gesprochener Sprache. Aber ich wurde auch zu speziellen Malübungen angeleitet. Und als ich ihn einmal bat, mir eine Meditationstechnik vorzuschlagen, empfahl er mir zu meiner Überraschung, beim Schreiben möglichst konkret und lebensnah zu bleiben. Erst Jahre später begriff ich, weshalb das tatsächlich eine Form von Meditation ist.
Gleichwohl waren und sind seine eigenen Schriften komplex und nicht leicht zugänglich. Manche seiner Aufsätze hat Herr Keyserling auf Tonkassetten gesprochen. Ich habe eine dieser Aufnahmen digitalisiert. Es handelt sich um einen, wie der Autor es selbst bezeichnet, Entwurf mit dem Titel „Generationsdialektik“. Darin geht es um Erziehungsfragen, insbesondere um den Entwicklungsweg von Söhnen und Töchtern zu Brüdern und Schwestern in Geschwisterfrieden, um Ichwerdung und Sinnwerdung sowie um die Bedeutung, die das Überich dabei hat, wobei letzteres hier weiter gefasst wird als in der traditionellen Psychoanalyse Freuds. Obwohl ich versucht habe, die Tonqualität so gut wie möglich zu verbessern, ist sie nicht optimal. Die Aufnahme gibt dir aber die Möglichkeit, Manfred Keyserling selbst sprechen zu hören.
Manfred Keyserling: Generationsdialektik
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