Gedichte

Kleid

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Des Jugendalters Tatendrang
ist stets mit Leibes Kraft im Bunde.
Dem jugendlichen Überschwang
liegt Triebes Drängen doch zugrunde.

Man ist gespannt, die Haut ist glatt
und strebt empor, sich stolz zu zeigen.
Man ist, so scheint es, was man hat,
und fühlt beglückt die Säfte steigen.

So wird der junge Mensch gar sehr 
vom Frühling seines Leibs getragen.
Am Körper trägt er selbst nicht schwer,
kein Grund nach Daseins Sinn zu fragen.

Sie lastet nicht, sie ist zu weit,
die Größe dieser Lebensfülle.
Man fühlt den Schwung, den sie verleiht,
erlebt den Leib noch nicht als Hülle.

Der Taten Leichtigkeit verführt,
sich selbst als Meister schon zu sehen.
Man sieht, von Schwäche unberührt,
sich höher als die andren stehen.

Des jungen Körpers Eleganz,
verführt uns so in jungen Jahren
zu Übermut und Arroganz,
zu unbewusstem Ich-Gebaren.

So freue dich, ist dir erlaubt,
im alten Körper auch zu leben.
Denn dann, des Erdensafts beraubt,
kannst du dich ganz im Geist erheben.

Nun scheint dir deine Leibgestalt
den Dienst von früher zu versagen.
Damit sie steht, gib du ihr Halt!
Sie trägt nicht mehr, du musst sie tragen.

Erkenne, was in dir sich regt,
ein Wille bislang nicht empfunden.
Erlebe, wie der Leib sich legt,
dem Geist ein Kleid, Natur entwunden.

Dein Körper lässt dich los, entspannt
und fällt, geprägte Form, in Falten.
Bekenne dich zum Ich-Gewand,
und müh‘ dich nicht, es jung zu halten!

Doch jung im Geiste sei sehr wohl,
verleih’ dem Körper Glanz von innen!
Denn ohne Geist erscheinst du hohl,
und siehst die Jahre bloß verrinnen.

Der Leib, der treu dich einstmals trug,
allmählich wird er dir zur Bürde.
Erkenne, was die Stunde schlug;
der Geist allein verleiht dir Würde.

Erhebe dich, im Geiste bleib,
mit Stolz gewiss und doch bescheiden,
und wisse dich mit diesem Leib
in Wahrheit würdevoll zu kleiden.

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