Mehr Woher als Wohin
In der Realität unseres irdischen Daseins stoßen wir auf Zustände und Entwicklungen, die uns bedrohlich und destruktiv erscheinen, etwa die zunehmende Technisierung nicht nur des Arbeits-, sondern auch des Privatlebens, den wachsenden Einfluss einer sogenannten künstlichen Intelligenz, die fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft, die scheinbar schwindende Empathie und damit einhergehende Intoleranz, Aggressivität und Zerstörung. Angesichts all dessen entsteht in uns ganz natürlich der Wunsch nach einer besseren Welt. Wir stellen uns vor, wie diese sein sollte. Das heißt, in uns entstehen Vorstellungen einer idealen Welt, eines idealen Zusammenlebens von Menschen im Einklang mit der natürlichen Umgebung. Davon ausgehend bemühen wir uns mehr oder weniger intensiv darum, das Vorgestellte zu verwirklichen.
Wir sehen also, dass der Entstehung von Idealen eine Beurteilung der Welt vorausgeht. Wir sagen uns: Diese oder jene Entwicklungen und Zustände sind ungut, gehen in die falsche Richtung, sollten so nicht sein. Sie sind fehlerhaft und wir lehnen sie ab. Aber dürfen wir das? Dürfen wir einen Teil der offenbaren Realität ablehnen? Ich frage das insbesondere im Zusammenhang mit einem spirituellen Leben. Kommt all dieses Negative nicht letztendlich auch von Gott? Ist es nicht Teil Seiner Schöpfung? Oder müssen wir vielmehr feststellen, dass die Menschheit Wege geht, die tatsächlich außerhalb der Absicht Gottes verlaufen, Seinem weisen, himmlischen Plan vielleicht sogar zuwiderlaufen?
Wir spüren, dass es nicht so einfach ist. Wir sollten gewiss nicht alle modernen Entwicklungen in Bausch und Bogen ablehnen, aber wir können sie genauso wenig alle gutheißen. Offenbar gehört es zum Menschsein dazu, dass wir uns entscheiden müssen. Welchen Weg wollen wir gehen – und welchen lassen wir links liegen? Da stellt sich die Frage nach dem Kriterium, das wir unserer Entscheidung zugrunde legen. In der Sprache der Religion ausgedrückt begründen wir unsere Ablehnung bestimmter Entwicklungen damit, dass es hier um Wege geht, die uns von Gott wegführen, die uns blind machen für die Realität des Geistes, welche Licht und Liebe ist. Dies, so meine ich, sollte unsere Richtschnur sein bei der Beurteilung dessen, was uns in der Welt begegnet – und nicht etwa diffuse Angst, persönliche Abneigung oder Unverständnis.

Bringen uns unsere Ideale näher zum Geist Gottes, näher zu Wahrheit und Liebe? Das Geistige, so wie ich es verstehe, ist das Verbindende, das wahrhaft Gemeinschaft Bildende. Ich könnte also auch fragen: Führen uns unsere Ideale zusammen oder trennen sie uns? Die Frage ist notwendig, denn auch Menschen, die andere ausschließen, unterdrücken oder vertreiben, die Gewalt ausüben und Kriege führen, haben Ideale. Die Geschichte der Neuzeit liefert dafür mannigfaltige Beispiele. Für das Ideal einer reinen Rasse, eines gerechten Staatsgebildes, einer gottgenehmen Gesellschaftsordnung oder des wahren Glaubens mussten schon unzählige Menschen ihr Leben lassen. Derlei historische Fehlschläge sollten uns zur Vorsicht mahnen.
Offensichtlich haben Ideale ihren Ursprung in der Welt des Geistes, in dem, was Platon den Ideenhimmel nannte. Dieser Ursprung ist letztlich das, was wir in unserem innersten Wesen sind. Wenn wir das Ideal der Güte, Achtsamkeit und Harmonie aus dem Innern empfangen, dann sagt es uns: „So solltest du sein.“ In ihrem Kern stellen Ideale also nicht so sehr einen Bauplan oder eine Handlungsanleitung für eine bessere Welt dar, sondern einen inneren Beweggrund, auf den es aufmerksam zu werden gilt. Fehlt uns diese Aufmerksamkeit, kann das Gute nicht werden, weil wir etwas wollen ohne zu bemerken, dass wir es nicht wollen können. Gemeinschaften brechen auseinander, solange jedes Mitglied an seinen eigenen Vorstellungen von einer idealen Gemeinschaft festhält und vergisst, dass nicht dieses oder jenes Ziel, sondern allein der Ursprung verbindet. Nur aus dem geteilten Woher kann ein einigendes Wohin entstehen.
Wir gehen meistens davon aus, dass unser Vermögen zu wollen von Willensstärke, Disziplin, Vitalität, Konzentration, Ausdauer und dergleichen abhängen. Es scheint, als ginge es vor allem um die Bereitschaft, sich anzustrengen und die eigene Trägheit zu überwinden. Der Gedanke, dass wir nur in Entsprechung zu unserem Sein wollen können, mag daher befremden. Ich möchte versuchen, diese Entsprechung anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Es ist schon so, dass wir prinzipiell nahezu unbegrenzt alles Mögliche sagen können. Je mehr wir gehört und gelesen haben, umso mehr können wir in unseren Aussagen wiedergeben. Geht es dabei um alltägliche Dinge oder sachliche Themen, fällt das Sein des Sprechers kaum ins Gewicht. Wenn uns jemand erklärt, wie die Wettervorhersage für Morgen ist, so ist es nicht wichtig, wer uns das sagt. Die Mitteilung könnte genauso gut von jedem anderen kommen – ihr Wert wäre immer der gleiche. Anders wird es aber, sobald von inneren oder geistigen Realitäten gesprochen wird. Auch hier kann jeder alles Mögliche sagen – zumal es heute eine Unmenge an psychologischer und spiritueller Literatur gibt. Doch wir spüren, dass nicht jeder mit dem, was er sagt, glaubwürdig ist. Er mag intellektuell begeistert oder von hehren Idealen beflügelt sein, doch kann er nicht von etwas sprechen, was nicht in ihm lebt.

Stellen wir uns vor, verschiedene Menschen sagen die einfachen Worte: „Gott ist allmächtig“. Der Erste sagt es vielleicht ganz nebenbei, floskelhaft, ohne zu hören, was er da eigentlich sagt. Wir spüren sogleich die fehlende Tiefe oder Achtsamkeit. Der Zweite mag die Worte so betont feierlich und ernst aussprechen, dass sein versteckter Hochmut zum Vorschein kommt. Die Allmachtsfantasien des Ego klingen durch. Der Dritte lässt die Worte drohend durch den Raum hallen, wodurch seine eigene Angst vor Schuld und Strafe spürbar wird. Beim Vierten schwingt Skepsis mit und wir ahnen, dass er gerne ein „angeblich“ einfügen würde. Der Fünfte ist offenbar erfüllt von Eifer und will uns von etwas überzeugen, was er doch selbst nicht versteht. Der Sechste spricht so leise, dass Minderwertigkeitsgefühle oder auch falsche Bescheidenheit hörbar werden. Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Unser wachsames Ohr hört, dass letztlich keiner der Sprecher den Worten gewachsen ist. Der Ursprung tönt nicht durch und so können die Worte keine einigende Wirkung erzeugen. Wer vermag sie so zu sagen, dass dabei Liebe und Ehrfurcht zusammen einen reinen, harmonischen Klang erzeugen?
Verstehen wir Ideale so, dass sie auf einen gemeinsamen Ursprung verweisen, können sie für uns eine Erinnerungshilfe sein. Das Ideal des Friedens– ob nun zwischenmenschlich oder zwischenstaatlich – mag uns daran erinnern, dass wir aus einer geistigen Sphäre des Friedens kommen. Diese Erinnerung ist kein Zurückgehen in die Vergangenheit, sondern ein Innewerden in einem Moment des Seins. Indem uns das Ideal innewird, prüft es uns. Dann werden wir gewahr, ob und inwiefern der Frieden in uns lebt und wir selbst in Frieden sind. Die Größe und Tiefe des göttlichen Friedens ahnend, werden wir bescheidener und wägen unsere Worte. Erst wenn es uns gelingt, aus unserem Ursprung zu sprechen, haben unsere Worte das Vermögen, den Ursprung im anderen zu erreichen. Wir sollten uns also das Ideale nicht so sehr vorstellen, es vor uns hinstellen, sondern uns innerlich darauf einstellen.
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