Sein im Dasein

Die Herausforderung, das Unvereinbare zu vereinen

Audio Version

Es gab wohl immer schon die Versuchung, uns von der Welt abzuwenden. Die scheinbar sinnlosen Qualen, das unerklärliche Vorhandensein von Gewalt, die nicht zu leugnende Tatsache von Krankheit, Tod und Verderben haben uns durch die Jahrtausende hindurch wiederholt an der Welt unseres Daseins verzweifeln und zugleich auf eine bessere Welt jenseits der erscheinenden hoffen lassen. Viele, gerade im asiatischen Raum, gingen ei-nen Schritt weiter und schlussfolgerten, dass die Welt in der wir leben, gar nicht wirklich, sondern vielmehr illusorisch sei, bloß Maya. Alles, was wir auf Erden erfahren, müsse man als eine Täuschung ansehen. Die „wahre“ Welt kenne weder Tod noch Mangel noch Leid.

Es gibt auch heute ähnliche Vorstellungen. Die modernen, quasi wissenschaftlichen Spielarten des Jenseits heißen etwa Parallelwelt oder alternative Zeitlinie. Der zugrundeliegenden Theorie gemäß können wir die Welt des Krieges oder Mangels verlassen und in eine Dimension des Friedens oder der Fülle hinüberwechseln. Das sei eine Frage des Bewusstseins. Aber wenn diese Welt, in die wir hineingeboren werden, bloß dazu wäre, ihr zu entkommen, weshalb wurde sie dann überhaupt erschaffen? Warum ist diese Dimension des Leids da? Sollte das irgendein grausames Spiel Gottes sein oder ein Alptraum, in den wir hineingeschickt werden, um daran zu erwachen? Und Gott schaut sich das Ganze aus kosmischer Ferne an, auf seiner höchsteigenen Zeitlinie?

Es scheint so, als seien wir nur imstande, unseren Glauben an Gott oder Wahrheit zu erhalten, indem wir das Göttliche oder Wahre als ein Jenseitiges betrachten. Denn, so fragen wir, wie könnte die Welt unseres Daseins mit all ihren Kriegen und Grausamkeiten jemals göttlich sein? Wenn Gott wirklich mit uns in dieser Welt wäre, würde Er doch all dieses Elend niemals zulassen. Da die Welt nun aber so ist, wie sie ist, schlussfolgern viele andersherum, dass es Gott, Wahrheit oder eine geistige Dimension gar nicht gibt. Sie sind überzeugt, dass nur die erscheinende oder physische Welt real ist. Die Vorstellung von einem Gott oder einer erhabenen Wahrheit sei bloß dem Wunschdenken jener entsprungen, die die Härten dieser materiellen Welt nicht ertragen können.

So haben wir also zwei extreme Weltanschauungen; auf der einen Seite die Auffassung, dass der erscheinenden Welt letztlich keine Wirklichkeit zukomme, und auf der anderen Seite jene, nach der eben diese materielle Welt die einzig reale sei. Mit letzterer Anschauung will ich mich hier nicht weiter befassen. Ich halte den Materialismus, der häufig mit Hedonismus versüßt wird, für einen Ausdruck mangelnder Intelligenz und Empa-thie, das Ergebnis einer äußerst einseitigen Fixierung auf den Verstand. Was mich dagegen interessiert ist die Einheit von Gott und Welt, Sein und Dasein, ihre Vermählung, wie es in der Sprache der Mystiker heißt. Ich glaube in der Tat, dass Gott in der Welt ist, in dieser Welt mit all ihren Problemen und Verwerfungen. Hier im Diesseits sollten wir Gott suchen, Ihn in seiner Schöpfung zu erkennen suchen, und nicht darauf setzen, dass wir Ihn irgendwann in einer wie immer vorgestellten Anderwelt schauen werden.

Es ist nicht leicht, in der irdischen Realität, wie sie heute ist, zu leben. Darüber kann auch das Gerede von Fortschritt und zivilisatorischen Errungenschaften nicht hinwegtäuschen. Wir sehen große Ungerechtigkeiten, erschreckende Boshaftigkeiten und scheinbar unüberwindliche Missstände. Wir sehen, wie das Böse triumphiert und die Machtlosen bedrängt und schikaniert werden. Wie kann das sein? Was bedeutet all das? Was hat das alles mit uns selbst zu tun? Wer kein Glück und keine Beruhigung in Sinnes-freuden und einem völligen Rückzug ins Private findet, wem es nicht gelingt, sich mit allerlei Aktivitäten zu berauschen oder zu betäuben, kann nicht umhin, unter den Verhältnissen dieser Welt zu leiden. Dieses Leid, sofern es nicht in Selbstmitleid entartet, weckt ein Gefühl der Dringlichkeit, ein Gefühl der Pflicht zur inneren Wandlung. Es stärkt mit anderen Worten die Sehnsucht nach Gott.

Das Gefühl der Dringlichkeit drängt uns nicht etwa zur Eile. Wir leiden doch gerade darunter, im Leben ständig gehetzt zu werden. Dabei spüren wir, dass wir uns im Kreis drehen, gefangen im Hamsterrad mechanisch ausgeführter Arbeiten. Eile beruht auf der irrigen Annahme, dass wir in der Zeit etwas Wesentliches erreichen können. Wir können es nicht; wir verlieren uns. Es geht also nicht darum, schnell etwas zu erledigen, solange es noch geht, schnell die Welt zu retten, bevor es zu spät ist. Paradoxerweise gemahnt uns dieses Gefühl der Dringlichkeit daran, innezuhalten und nach dem Sinn des Daseins im unmittelbar erlebten Moment zu fragen. Dabei kann sich uns eine Gegebenheit aus vergangener Zeit, auf die wir damals nicht aufmerksam genug waren, als Sinn in Erinnerung bringen. So werden die Geschehnisse unserer Lebenszeit allmählich zum Ausdruck dessen, wer wir sind, und es offenbart sich das Wirken Gottes in uns.

Drängt uns das Gefühl der Dringlichkeit nicht zur Eile, so drängt uns die Sehnsucht nicht zur Flucht. Das Verlangen nach Gott, nach Wahrheit und Frieden, findet keine Befriedigung, indem wir neue Erfahrungsräume aufsuchen. Bei dieser Suche in den uns umgebenden Räumen können wir uns leicht selbst vergessen oder unserer Herkunft untreu werden. Wir reisen dann um die Welt, weil wir unbedingt noch dieses oder jenes gesehen haben wollen. Zwar sammeln wir auf diese Weise viele Erfahrungen, aber wir finden nicht den Ort, wo sie uns ihren Sinn offenbaren. Denn dieser Ort ist in unserem Sein, ist im Grunde dimensionslos. Die Sehnsucht der Seele kann uns dazu veranlassen, den Kulturraum zu wechseln und unser Heil in einer anderen Religionsgemeinschaft oder einem Ashram zu suchen. Doch natürlich bringt uns der neue Raum nicht per se unserem Selbst und damit Gott näher. Wir müssten deshalb prüfen, ob der Rückzug in exklusive Räume uns nicht in ein verträumtes Dasein versetzt.

Wir finden kein rechtes Verhältnis zu Raum und Zeit, solange wir nicht gelernt haben, im inneren Sein zu ruhen. Ohne diese Selbsterinnerung sehen wir uns unablässig dazu angetrieben, neue Räume zu erschließen, seien es Lebensräume, Erfahrungsräume, Wirtschafts-, Welt- oder Hyperräume. Und diese endlose Eroberung neuer Gebiete setzen wir mit Fortschritt gleich: immer schneller, immer weiter, immer mehr. So kreieren wir eine Welt des Mangels, denn es scheint, als hätten wir keine Zeit und als würde der Raum sich in unvorstellbare Weite ausdehnen. Wächst dagegen die Beziehung zum inneren Sein, wächst auch das Vertrauen, dass alles seine Zeit und seinen Ort hat. Dann lernen wir zu erspüren, was wann zu tun oder zu lassen ist. So wird unser Weg durch die Welt zu einem Übungsweg. In der Liebe ist die Einheit; wir lassen dem anderen seinen Raum und schenken ihm unsere Zeit.

Kommentare

[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.]

Bitte aktiviere JavaScript in deinem Browser, um dieses Formular fertigzustellen.
Name

Beitrag veröffentlicht

in

von