Warum wir Erniedrigung durchaus begrüßen sollten
Um die im Untertitel gemachte Aussage zu begründen, müssen wir uns darauf verständigen, dass es stets und ausschließlich unser Ego ist, das eine Erniedrigung erfährt. Unsere Seele kann nicht gedemütigt werden, denn sie kennt weder Selbstbehauptung noch Selbstverteidigung. Es ist das Ego, das empfindlich auf allerlei Kränkungen oder vermeintliche Beleidigungen reagiert. Warum das so ist, soll im Folgenden dargelegt werden. Um also den positiven Wert einer Demütigung verstehen zu können, müssen wir uns zunächst genauer ansehen, was eigentlich dieses Ego ist, wie mächtig es ist, und wie weit sein Einfluss in unserem Leben reicht.
Gleich am Anfang muss ich einer Ansicht entgegentreten, die ich für ein Missverständnis halte. Denn das Ego ist nicht bloß eine Maske, die wir nach Belieben auf- und absetzen, so wie eine Rolle, die wir in der Gesellschaft spielen, auf die wir aber zu Hause, in vertrauter Umgebung, verzichten können. Es entspricht vielmehr der Wirklichkeit, dass wir mit diesem Ego mehr oder weniger stark verwachsen sind, so dass wir uns nicht so leicht von ihm lösen können. Bei ehrlicher Selbstbetrachtung können wir feststellen, dass es unser Denken, Fühlen und Wollen weitestgehend beherrscht. Denn was ist das Zentrum all dieser inneren Tätigkeiten? Worum dreht es sich, wenn wir denken, fühlen oder wollen? Wer ist das Subjekt dieser Prädikate? Es ist das Ego, das sich selbst „ich“ nennt. Ich denke dies und das, ich fühle dies und das, ich will dies und das. Indem wir also denken, fühlen oder wollen, kommen wir gar nicht umhin, uns selbst als Zentrum dieser psychischen Aktivitäten wichtig zu nehmen. Anders gesagt: Unser gewöhnliches Tagesbewusstsein ist ein Ego-Bewusstsein.
Sobald wir uns aber selbst wichtig nehmen, grenzen wir uns sowohl von anderen als auch von unserer Umgebung ab. Und indem wir uns absondern, betrachten wir uns als etwas Besonderes; wir haben dann die Trennung „ich hier und der Rest dort draußen“. Diese Trennung oder Abtrennung ist das Kennzeichen des Ego. Deshalb sind wir im Wortsinne egoistisch, wo immer wir uns selbst wichtig nehmen. Unser ganzes Denken kreist dann um uns selbst, um unsere Sorgen und Ängste, unsere Bedürfnisse und Ziele, unseren Erfolg oder unser Ansehen in der Welt. Daher der Begriff Egozentrik. Ständig ist unser Ego bemüht, sich so in Szene zu setzen, dass es Anerkennung und Wertschätzung erhält, sei es dadurch, dass es hilft, gestaltet, kämpft, lehrt, unterhält, tröstet oder herrscht. Entscheidend ist immer die Motivation, der Beweggrund. Wenn wir anderen helfen, weil unser Bedürfnis zu helfen so stark ist, dass wir gar nicht anders können, handeln wir aus Zwang und Zwang ist ein Wesensmerkmal des Ego. Von außen betrachtet mag unser unermüdliches Helfen außerordentlich sozial, tugendhaft und aufopferungsvoll erscheinen, während wir in Wirklichkeit nur unser eigenes Bedürfnis befriedigen.

Manchmal begegnet uns ein Mensch, der in unseren Augen narzisstisch ist, gemäß der mythologischen Erzählung vom schönen Jüngling Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebt. Wir sehen, dass ein solcher Mensch in seiner Selbstverliebtheit gefangen ist, außerstande andere zu lieben. Es scheint sehr schwer zu sein, sich aus diesem Gefängnis zu befreien. Sigmund Freud schlussfolgerte gar, der Narzissmus sei unheilbar. Aber beobachten wir uns selbst! Denn vielleicht ist es so, dass wir innerlich mit dem Finger auf den mutmaßlichen Narzissten zeigen, uns über ihn empören und ihn bereitwillig als „Egoisten“ bezeichnen, nur um uns selbst damit von diesem Prädikat zu befreien. Indem wir auf diese Karikatur eines Egoisten verweisen, überzeugen wir uns selbst, keine Egoisten zu sein. Dabei ist es doch gerade das Ego, das sich ständig mit anderen vergleicht.
So leicht ist es also nicht, sich vom Egoismus zu befreien. Gelingt es uns, unsere Realität unvoreingenommen in Augenschein zu nehmen, so sehen wir, dass es uns sehr schwerfällt, fast unmöglich ist, andere zu lieben wie uns selbst. Irgendetwas zwingt uns, immer und zuvorderst uns selbst an die erste Stelle zu setzen. Dieser innere Despot ist eben unser Ego. Er ist seiner Natur nach maßlos wie ein Kind, das ständig die Aufmerksamkeit aller anderen fordert. Zugleich ist er parteiisch, weil er sich selbst schonend und mit Milde, alle anderen dagegen streng oder gar unbarmherzig beurteilt. Vor allem aber kennt er keine Demut, da er naturgemäß von seiner einmaligen Größe und Bedeutung überzeugt ist. Ein bescheidenes Ego gibt es nicht. Wir sollten uns von seinen Inszenierungen nicht täuschen lassen. Es mag uns veranlassen, uns bescheiden zu geben. Aber insgeheim wissen wir sehr wohl, dass wir damit heucheln. Der wahrhaft Bescheidene weiß gar nicht um seine Bescheidenheit. Sogar, wenn wir uns selbst beschimpfen und mit Vorwürfen überhäufen würden, zeigte doch gerade die Maßlosigkeit dieser Selbstvorwürfe das ganze Ausmaß unserer Selbstbezogenheit.
Natürlich ist es nicht angenehm, sich diese Tatsachen einzugestehen. Deshalb ist es verlockend, unseren Egoismus als „Selbstliebe“ zu verbrämen. Zu unserer Rechtfertigung sagen wir Sätze wie: „Ich nehme mich selbst wichtig, denn immerhin bin ich ein Kind Gottes.“ Doch die Realität unserer Abtrennung von allem und jedem bleibt bestehen. Der Begriff „Selbst-Liebe“ impliziert doch schon eine Kluft zwischen uns selbst und all den anderen. Liebe, so wie ich sie verstehe, kann nur dort sein, wo es weder Subjekt noch Objekt gibt. Sie ist eher zwischen uns, etwa in Form von Interesse. Sie wird erlebt in echter Anteilnahme an der Welt oder tiefem Mitgefühl mit allem, was lebt; aber sie gehört niemandem.

Wir müssen also die innere Alleinherrschaft des Ego als sehr hartnäckig und widerstandsfähig ansehen. Es sitzt tatsächlich fest im Sattel. Daher werden seine Anmaßung, seine Einbildung und sein Eigendünkel durch gutes Zureden, freundliche Nettigkeiten oder eine optimistische Umetikettierung nicht im Geringsten reduziert. Bedenken wir, dass es durchaus geübt und raffiniert ist, wenn es darum geht, sein eigenes Vorgehen zu rechtfertigen! Unsere ganze Selbstgerechtigkeit kommt von ihm. Es ist mitnichten das Kind Gottes, von dem die Überlieferung spricht. Vielmehr verstellt es uns den Blick auf unsere Gotteskindschaft. Wenn wir diese Tatsache wirklich erfassen, das heißt den Schrecken dieser Situation erleben, können wir verstehen oder zumindest erahnen, dass die Demütigung dieses Ego nicht nur wünschenswert, sondern unumgänglich ist.
Das heißt nun aber nicht, dass wir uns selbst erniedrigen sollten. Das wäre bloß ein Spiel, eine Art versteckte Selbstgefälligkeit. Der Philosoph Friedrich Nietzsche, der oftmals gegen Scheinheiligkeit wetterte, „verbesserte“, wie er sagte, Lukas 18,14, indem er behauptete: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.“1 Wir brauchen aber die Demütigung des Ego gar nicht willentlich herbeizuführen. Erniedrigende Erfahrungen gibt es im täglichen Leben zuhauf. In einer bestimmten Gesellschaft fühlen wir uns vielleicht zu wenig beachtet, merken, dass andere uns nicht ernst nehmen, die Augen verdrehen und sich über uns lustig machen. Oder wir haben jemandem ein Geschenk gemacht, müssen aber erfahren, dass derjenige es kaum beachtet und sich gar nicht richtig bedankt. Oder jemand kritisiert unser Verhalten, während er selbst genau das tut, was er uns vorwirft. Ständig machen wir Erfahrungen, die für unser Ego demütigend sind. Bei einer öffentlichen Feier hält eine wichtige Person eine große Dankesrede. Viele werden namentlich erwähnt – nur wir nicht. Und schon wieder fühlt sich das Ego übergangen, zurückgesetzt, nicht gewürdigt. In uns meldet sich Empörung oder Trauer und solche Reaktionen zeigen an, dass sich das Ego aggressiv gegen seine Erniedrigung wehrt oder weinerlich darüber beklagt. Die Kunst der Selbstbefreiung besteht darin, diese Ego-Reaktionen nur zu beobachten – und sich nicht mit ihnen zu identifizieren.
Womit aber identifizieren wir uns stattdessen? Ein Weg, uns aus dem Klammergriff des Ego zu befreien, wäre es, uns mit genau demjenigen Menschen zu identifizieren, der unser Ego gedemütigt hat. Wir versetzen uns in seine Lage und betrachten die Situation aus seiner Perspektive. Nehmen wir an, ein Betrüger hat uns Geld abgeknöpft. Eine hässliche Sache gewiss, die sich für uns als Geschädigte gar nicht gut anfühlt. Anstatt uns nun aber selbstgerecht aufzuregen und nach Fahndung und Bestrafung zu schreien, überlegen wir, dass der Betrüger das Geld vielleicht dringender benötigt hat als wir, dass er es vielleicht an einer Stelle ausgeben wird, wo man es am meisten braucht. Sicherlich freut sich der Betrüger, dass ihm sein Betrug gelungen ist. Schaffen wir es, ihn für seine Schlauheit und Kühnheit zu bewundern, ihm gar seinen Erfolg zu gönnen?

Spüren wir nach, was bereits die Vorstellung eines solchen Perspektivenwechsels in uns auslöst! Wir merken, dass sofort Einwände kommen: Man könne sich doch nicht alles gefallen lassen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir die Bösewichte einfach gewähren ließen? Wie kann jemand, der sich nicht verteidigt, erwarten, von anderen ernst genommen zu werden? Wenn man nicht selbst seine Ansprüche geltend mache, gehe man in der Welt unter, denn ein anderer werde es nicht für einen tun. All diese Einwände, die oft als Ausdruck des gesunden Menschenverstandes daherkommen, sind Ego-Einwände. Es ist entscheidend, das zu erkennen. Sich solche Einwände nicht zu eigen zu machen, ist ein gangbarer Weg, um die Macht des Ego, das uns fortwährend hindert, in Beziehung zu gehen, wirksam zu schwächen.
Ich vermute, dass in diesem Sinne auch die Christusworte vom Darbieten der anderen Backe2 oder von der Feindesliebe3 gemeint sind. Hier wird uns geraten, der Selbstgerechtigkeit und Selbstherrlichkeit des Ego zu Gunsten der Gerechtigkeit und Herrlichkeit des Vaters im Himmel aufzugeben. Ohne diesen Verzicht, bleiben wir in der Festung des Ego eingesperrt und können nicht glücklich sein.
- Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 19788, Seite 79 ↩︎
- Matthäus 5,39 ↩︎
- Matthäus 5,44 ↩︎
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